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Sind doch nur ein paar

1,7 Prozent von 100 Prozent erscheinen auf den ersten Blick nicht viel. Wer kümmert sich schon um 1,7%, schließlich läuft bei 98,3% alles gut. Nur keine Wellen! Nur keine Aufregung! Einer österreichischen Tageszeitung war diese Zahl zumindest eine kleine Schlagzeile wert. 1,7 Prozent der österreichischen Schüler*innen verweigern zurzeit die Testung, die ihnen die Teilnahme am Präsenzunterricht ermöglicht. In der Volksschule stellen sich die Eltern quer, in der Oberstufe die Schüler*innen selbst.

Was all jenen von offizieller Stelle klar kommuniziert wurde: Es besteht in diesem Fall kein Recht auf Betreuung von Seiten der Schule.  Es wird auch bei der Benotung am Jahresende nicht die viel zitierte Milde zur Anwendung kommen. 

Lehrer*innen und  Schulleiter*innen sind angehalten, nicht zu viel nachzufragen. Frei nach dem Motto: Gut, dann kommt das Kind eben nicht, und verliert eben ein Schuljahr.

Warum kein Test?

Warum wollen manche Eltern nicht, dass ihre Kinder getestet werden? Was treibt sie an? Warum nehmen sie nicht die Chance wahr, der Testung des Nachwuchses beizuwohnen?

Ja, es gibt unterschiedliche Gerüchte und Mythen, auf die ich an dieser Stelle gar nicht mehr näher eingehen will.  Es ist nicht in meinem Sinn, einen verfahrenen Diskurs neu zu beleben. Ich bin auf der Suche nach Lösungen.

Verhärtete Fronten

Die Fronten sind verhärtet.  Zwischen, „na gut dann nicht“ und „mein Kind sicher nicht„, gibt es wenig Platz. Aber wie soll das weitergehen? Denn Test und Masken werden auch im Herbst 2021 Thema sein. „Das Corona Virus ist gekommen, um zu bleiben,“ lautet die realistische Einschätzung der Expert*innen. Was passiert in weiterer Folge mit den Kindern und Jugendlichen, die schon seit Monaten auf dich selbst und/oder auf ihre Eltern angewiesen sind? In Österreich gibt es eine Unterrichtspflicht und keine Schulpflicht. Theoretisch ist es erlaubt die Kinder zuhause zu beschulen. Am Ende des Semesters beziehungsweise des Schuljahres müssen Prüfungen abgelegt werden. Diesen Weg sind Eltern schon vor der Corona-Krise gegangen. Aber handelt es sich hier um die beste Möglichkeit, wenn diese einer Not oder einer trotzigen Haltung gehorcht? Wie viele Chancen haben jene Kinder tatsächlich, wohlbehalten und sicher durch das Schuljahr zu kommen? Wie gut lernt es sich unter Anleitung von Eltern, die kein Vertrauen mehr in das System haben? Welche Lernerfolge sind zu erwarten, wenn auf der anderen Seite Kolleg*innen stehen, denen dieser Umstand egal ist? Die mit den Schultern zucken und meinen „dann werden diese Kinder und Jugendliche eben das Jahr wiederholen müssen“.

Das Gespräch suchen

Ich gestehe an dieser Stelle, dass meine Kommunikationsbereitschaft mit Corona-Leugner*innen sehr schwach ausgeprägt ist. Ich stoße an meine Grenzen. Mir fehlen die Argumente. Aber in diesem Fall geht es nicht um meine Befindlichkeiten, sondern um Kinder und Jugendliche, denen viel mehr als die Vermittlung von Inhalten entgeht. Denn spätestens seit dieser verfluchten Pandemie haben die meisten Menschen begriffen, dass Schule viel mehr ist als ein Ort der ausschließlichen Wissensvermittlung; ein Ort an dem jedes Kind wichtig ist.

Selbst wenn es schwer fällt, die Institution Schule muss das Gespräch suchen. Auch dann, wenn die Lehrer*innen angehalten wurden Diskussionen zu vermeiden. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, hat vor vielen Jahren Erich Kästner geschrieben. Die Zeiten sind außergewöhnlich.

Mögliche Strategien

Zuerst sollten wir, also die Institution Schule, überlegen wie gut wir die betreffenden Eltern kennen. In weiterer Folge lohnt es sich die Perspektive zu wechseln. Viele Eltern sind verunsichert, verstehen vieles immer weniger. Das kann ich nachvollziehen. Wie war das mit K1 und K2. Wann bin ich K1, wann nicht? Ich bin geimpft, trage Maske, hab eine positive Schülerin nur 15 Minuten in der Klasse gehabt. Was ist mit den Klassenkolleg*innen? Sind die K1 oder nur jene, die in der Nähe des Kindes sitzen? Ein Test ist positiv, der andere negativ. Was nun? In diesem „Dschungel“ finden sich nicht nur 1,7 Prozent schwer zurecht. Was? Wie? Warum? Ja oder nein? In all dieser Verunsicherung erklärt dann zum Beispiel ein Nachbar oder eine beste Freundin, dass das alles Quatsch wäre. Dass die Nachbarin jemanden kennt, der kennt auch jemanden und der hat einen entfernten Verwandten, dessen Vater angeblich an Corona verstorben ist, aber dem war gar nicht so. Also, alles Lüge. Es ist der Gesamtsituation geschuldet, dass an den Stellen nach Hilfe gesucht wird, die einfache Lösungen für komplexe Probleme scheinbar aus dem Ärmel schütteln. Das ist und war immer die Masche derjenigen, die verwirrte Menschen für abartigen Theorien begeistern wollen. Es hilft auch nichts in diesen Situationen etwaige Machtgefälle in den Fokus zu rücken. Im Sinne von: Ich bin die Lehrerin. Ich weiß am besten Bescheid. Das werden Sie doch verstehen! Jede Wette, dass die angesprochenen Eltern sofort auf Abwehr gehen, das Kind einpacken und beleidigt das Gespräch abbrechen. Im schlechtesten Fall drohen diese dann mit Anwalt und Behörden. 

Hilfe zu holen ist ein Schritt, der vielen Lehrer*innen nicht leicht fällt. Irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, dass wir vieles im Alleingang lösen müssen. Im Hinterkopf haben wir, dass es ein Zeichen von Schwäche sein könnte, Kolleg*in XY um Rat zu fragen. Kommt das denn gut, die Kolleg*in zu ersuchen, ein heikles Gespräch zu übernehmen, weil die eigenen Grenzen erreicht sind? Was zur Hölle wird er oder sie denken?

Wäre ich besagte Kollegin, ich würde mich in erster Linie wertgeschätzt fühlen. Mir würde das Vertrauen, das mir in diesem Fall entgegengebracht wird, viel bedeuten.  Ich würde auch jene Kollegin bewundern, die klar sagt, ich kann das nicht. Schwächen zuzugeben ist kein Makel.

An den meisten Schulen gibt es Sozialarbeiter*innen und/oder Psychagog*innen. Sie könnte man zu Hilfe holen, weil sie andere Möglichkeiten des Zugangs zu Eltern und Schüler*innen haben. Oberste Prämisse sollte sein, dass jene Eltern und Schüler*innen spüren, sie werden mit all ihren Bedenken und Anliegen ernst genommen.  Dass die Institution Schule das Kind, und nicht persönliche Befindlichkeiten, in den Vordergrund stellt. Behutsam, wertschätzend und möglichst frei von Vorwürfen könnte man vermitteln, wie wertvoll die/der Schüler*in für die Klasse ist. Dass Freund*innen ihn oder sie vermissen. Dass man die Eltern, wie schon erwähnt, auch zum Teil versteht. Grundvoraussetzung ist natürlich, dass all das ernst gemeint ist. 

Es gilt verhärtete Fronten aufzuweichen, und nicht einen kaputten Karren weiter an die Wand zu fahren.

Und wenn das alles nicht hilft?

Garantie, dass diese Ideen funktionieren, gibt es keine. Wenn sich Eltern tatsächlich völlig querlegen, dann wird es problematisch. Wie ich persönlich in diesem Fall reagieren würde? Ich würde den Eltern und ihren Kindern nicht jegliche Unterstützung verweigern, nicht alle Türen beleidigt zuschlagen. Selbst wenn alles wild verfahren ist, die Kinder sind die Leidtragenden. Also würde ich diese, im Rahmen meiner Möglichkeiten, unterstützen, solange bis das Kind wieder in die Schule kommen darf oder möchte.

Maria Lodjn ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Viel wurde zu den Deutschförderklassen schon geschrieben, viele können es vielleicht nicht mehr hören – doch geändert hat sich nichts. Im Gegenteil. Die alten Aufstiegsregeln sind wieder in Kraft getreten, keine Milde, keine Chance im System.

Stellen wir uns so eine Biografie mal vor:

Das Kind kommt mit 13 Jahren nach Österreich. Die Gründe sind egal. Ob sich die Eltern einen wirtschaftlichen Vorteil versprechen, ob sie aus beruflichen Gründen umziehen müssen oder vor Krieg oder Verfolgung flüchten – für ein Kind heißt es in diesem Alter in jeder Version Entwurzelung, Unsicherheit, Neustart. Und dieser Neustart ist selten positiv behaftet. Für ein Kind ist es immer ein irrsinniger Einschnitt ins Leben, wenn es umsiedeln muss. Ja, Kinder braucht vor allem die Eltern, aber auch das Umfeld, die erweiterte Familie, Bekannte und Bekanntes bilden ein Sicherheitsnetz. Wenn dieses reißt, sind sie im freien Fall. Dann kommen sie in ein neues Land, eine neue Schule, in eine neue Sprache, ein neues System. Sie merken bald, wenn auch nicht sofort, dass sie in Österreichs Deutschförderklassen, wo sie in den meisten Fällen einsortiert werden,  nicht wirklich sanft landen. Außerhalb der Norm, nicht „normal“ eben. Und Kinder sind meistens recht gerne normal. Sie fallen freiwillig nicht unbedingt auf. Zumindest in diesem Alter und mit diesem Bruch in ihrer Biografie. Dennoch weilen sie meist zwei Jahre im Sonderstatus. Manche, die wenigsten, schaffen es, in zwei Jahren ausreichend Deutsch zu lernen. Zumindest so, dass sie dem Stoff der ersten Klasse folgen können. Doch was ist mit denen, die dann mit 15 „zurück“ in die Vierte kommen? Altersgemäße Einstufung nennt man das. Schön, wenn sie Freunde im gleichen Alter finden – doch die Erwartungen der Lehrer*innen? Die Kinder migrieren von „Am Montag bin ich mit meiner Freundin ein Eis essen gegangen!“ zu „Schreibe eine Erörterung zum Thema Nachhaltigkeit im Verkehr! Nutze dafür den vorgegebenen Zeitungsartikel und denke an die vorgegebene Struktur der Textsorte!“

Spüren Sie auch die Kluft? Und können Sie sich auch vorstellen, wie defizitär wir Lehrkräfte uns jetzt fühlen? Zwei Jahre Arbeit haben wir investiert, Betreuung und Distance-Learning angeboten. Haben uns Gedanken gemacht, Spiele gespielt, die Grammatik eingedrillt – und dennoch wird dieses Kind in Deutschschularbeiten vermutlich immer nur Fünfer schreiben. Außer es hat viel Hilfe von Außen.

Wir begleiten Schüler*innen, die mit keinen Kenntnissen in der Unterrichtssprache nach Österreich kommen mindestens für ein Jahr, meistens länger. Um eine Bildungssprache ausreichend zu erwerben veranschlagen Linguist*innen fünf bis sechs Jahre.

Wir machen mit ihnen die ersten Schritte und versuchen, auch wenn die Umstände mehr als widrig sind, sie mit den notwendigsten Gesetzmäßigkeiten der deutschen Sprache auszustatten. Immer mit dem Ziel vor Augen, dass der Umstieg in die „normale Klasse“ so bald als möglich gelingt. Hier gäbe es dann ausreichend Input von außen, intrinsische Motivation durch Freunde, die die neue Sprache können, und ein klares Ziel vor Augen. Und wenn die Sprachkompetenzmessung MIKA-D es dann gestattet, müssen wir sie von heute auf morgen loslassen. Ein Prozess, der gar nicht so leicht ist. Schüler*innen, die wir lange betreut haben, sind jetzt Teil eines anderen Klassengefüges, eines standardisierten, nicht mehr isolierten Klassengefüges. Wenn wir sie am Gang sehen, dann grüßen sie uns und gehen weiter in die Stammklasse.

Die neue Welt der Stammklasse

Nach einem oder zwei Jahren gibt es also wieder einen Neuanfang, der mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist. Wird es gelingen Freund*innen und damit Anschluss zu finden? Wie werden die Noten sein? Werden sie überhaupt benotet werden, oder wird es doch nur für eine Schulbesuchsbestätigung und ein „teilgenommen“ im Zeugnis reichen? Ist diese Klasse wieder nur eine Zwischenstation, oder das Nest der nächsten Schuljahre?

Nehmen wir zum Beispiel Martin*. Er kam aus Syrien. Hat ein, zweimal wiederholt, die Gründe sind immer die gleichen. Nun ist er 16 Jahre und im letzten Schuljahr. Er muss sich um eine Lehrstelle bewerben. Seine Eltern waren im Heimatland wohlhabend und angesehen. Geflüchtet sind sie vor dem Krieg. Martin weiß, dass er hart arbeiten muss. Er steht oft um 5 Uhr morgens auf, um noch zu lernen. Er hat sich selbstständig eine Gruppe aus Freunden aufgebaut, die ihm in verschiedenen Fächern helfen. Informatik interessiert ihn. Er ist gut in Mathematik. Alphabetisiert wurde er auf Arabisch. Mit 11 hat er das Land gewechselt. Ihm fehlen Jahre der Übung in Grammatik und Orthographie in der lateinischen Schrift und der deutschen Sprache.  Und Englisch! Es ist seine zweite Fremdsprache, deren Basics er nie gelernt hat. Englisch in der achten Schulstufe setzt diese Basics aber voraus. Eine Lehrstelle als IT-Techniker auch. Da er in dieser Zeit so viel Deutsch lernen musste, hinkt er in Englisch hinterher. Welche Chance hat er jetzt? Und: Wer trägt die Verantwortung dafür?

Haben wir wirklich ein Bildungssystem, das die Kinder behindert?

Anna und Marton

Anna und Marton dürfen seit Jänner 2021 fix in ihrer Stammklasse, einer ersten Klasse, bleiben. Anna, ein sehr lebhaftes und aufgewecktes Mädchen, mit russischer Muttersprache, fasst ihre Zerrissenheit mit folgenden Worten zusammen: „Ist schon gut, aber auch nicht. Deutschklasse ist besser. Aber die andere ist auch gut.“  Marton hat Angst, schläft schon seit Tagen schlecht. In seiner Heimat Ungarn wurde er immer wieder ausgegrenzt und gemobbt. In der Deutschförderklasse war er gut integriert. Niemand hat sich daran gestoßen, dass seine Stimme und sein Gewicht hoch sind. Aber nun?

Dazu kommen Leistungsanforderungen, wie Schularbeiten, Tests und jede Menge Hausaufgaben in unterschiedlichen Gegenständen. Plötzlich, von heute auf morgen, müssen Anna und Marton ihren Lernalltag organisieren können. Erschwerend der Umstand, dass die Schule wieder einmal im Distanzunterricht ist und nur Betreuung angeboten wird.

Auch sie müssen jetzt anstatt einfacher Satzkonstruktionen Aufsätze schreiben können. Auch hier ist die Kluft sehr deutlich zu spüren. Märchen müssen geschrieben werden. Anna, die im Rahmen der Theaterarbeit mit der Deutschförderklasse schon immer gerne frei geschrieben hat, legt ohne Hemmungen los. Ihre Geschichten sind großartig, aber schwer zu beurteilen. Auch Marton kämpft sich tapfer durch Grammatik und Story-Telling. Für eine positive Note reicht es bei beiden leider nicht. Zum Glück werden beide von einem sehr wohlwollenden Lehrer*innenteam betreut, dass auch eine nochmalige Wiederholung der ersten Klasse mit allen Mitteln verhindern will. Und weil Anna aus einem bildungsaffinen Elternhaus kommt, hat sie Mathematik- und Deutschnachhilfe in ihrer Freizeit. Auch Martons Mutter würde ihrem Sohn das gerne ermöglichen, aber dafür fehlt das Geld. Ja, die Eltern haben schnell durchschaut, dass das System Schule in Österreich sich um Schüler*innen mit vermeintlichen Defiziten nicht kümmern will oder kann.

Juna

Juna ist eine Schülerin, die die vollen zwei Jahre in der Deutschförderklasse abgesessen hat. Dann wurde sie aus dem System entlassen, obwohl sie immer noch schwere sprachliche Defizite hat. Das ist mit ein Grund, warum sie zum dritten Mal die erste Klasse besuchen muss. Vieles ist seit ihrer Ankunft in Österreich schief gelaufen.  Das erste halbe Jahr, damals gab es an der Schule noch keine Deutschförderklasse, verbrachte sie in einer Klasse, wo sich niemand für sie interessierte. Als sie einmal für einen Lehrausgang den Fahrschein für die Straßenbahn vergaß, bestand der Klassenvorstand darauf, dass die Mutter sie sofort von der U-Bahnstation abholen muss. Theoretisch hätte man ihr das Geld für das Ticket leihen können. Von ihren Lehrer*innen wurde sie als trotzig und bockig beschrieben. Dass sie zutiefst verunsichert war, auf die Idee ist in diesem Verband keiner gekommen. Der zweite Anlauf die erste Klasse zu bestehen verlief ähnlich. Zu ihrem großen Pech kam sie wieder an Pädagog*innen, denen nicht auffiel, dass sie eine schwere Schreib-und Rechenschwäche hat. Wieder ein Jahr lang letzte Reihe, keine Aufmerksamkeit, zusätzlich dazu viele Stunden in der Deutschförderklasse. Wieder Außenseiterin in der Stammklasse. Und wieder die Diagnose: rotzig, frech und faul. Natürlich wurde in diesen ersten zwei Jahren immer wieder die Mutter des Mädchens vorgeladen, der klar und deutlich vermittelt wurde, dass ihre Tochter nicht will und keine Lust auf Schule hat.

Im dritten Anlauf wird hoffentlich alles gut. Aufgrund ihrer Schwächen wird mit Hilfe des Nachteilsausgleich auf sie Rücksicht genommen. Zusätzlich wird Juna von der Psychagogin betreut, um die erlittenen Kränkungen der ersten zwei Jahre zu verdauen. Auch die Mutter versteht langsam, dass ihre Tochter nicht nur faul und aufsässig ist. Diesmal wird sie die erste Klasse schaffen. Das erste Genügend auf die Mathematikschularbeit haben wir mit Saft und Keksen gefeiert. 

Aber ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Das System Deutschförderklasse hat verhindert, dass Junas Schwächen sofort erkannt wurden. 

Jeder Beitrag braucht ein Ende, so auch dieser. Während die Schüler*innen der Deutschförderklasse am Laptop das Perfekt üben, überlegen wir, was das Ende ist?  Ende gut alles gut, oder eben nicht alles gut? Wir, alle Lehrkräfte der Deutschförderklasse, hoffen, dass diese Mädchen und Jungen im nächsten Schuljahr von wohlwollenden Lehrer*innen begleitet werden. Von solchen, die wissen, dass es lange braucht eine neue Sprache zu lernen. Solche, die die unterschiedlichen Kompetenzen unserer Schüler*innen zu schätzen wissen. Solche Lehrer*innen, die Mut machen und Zuversicht ausstrahlen. Denn das haben sie sich verdient.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

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Vor den Osterferien ereignete sich ein Vorfall an einer Schule. Es wurde bekannt, dass Schüler*innen innerhalb des WhatsApp-Klassenchats Memes und Kommentare verschickt hatten, die antisemitisch waren und Hitler-Glorifizierungen beinhalteten. Einige geteilte Inhalte betreffen das Verbotsgesetz. In der anschließenden Konferenz und den Tagen danach überraschten insbesondere Reaktionen und Bemerkungen einiger Lehrer*innen. Ihr Verhalten und ihre Bemerkungen zeigten sich nach Recherchen als durchaus übliche Reaktionen auf Antisemitismus an Schulen sowie seiner Relativierung und Bagatellisierung. Das nahm ich zum Anlass, mich mit Antisemitismus an Schulen sowie ihrem Umgang mit dem Thema näher auseinanderzusetzen. Die daraus gewonnenen Einsichten dienen der Reflexion des oben geschilderten Vorfalls. Gewonnene Einsichten und daraus resultierende Handlungsempfehlungen mögen Lesenden als Inspiration dienen, sich selbst damit zu befassen und antisemitismuskritische Bildungsarbeit zu leisten.

Eine im Sommer 2020 veröffentlichte Studie konstatierte grobe Wissenslücken bei Jugendlichen zum Thema Antisemitismus. In ihren Grundzügen bestätigte eine vom Parlament in Auftrag gegebene und am 12. März diesen Jahres vorgestellte Studie, dass Antisemitismus kein Randphänomen sei. Das sind keine überraschenden Erkenntnisse. Antisemitismus ist ein Jahrtausende altes Phänomen. Und die Forderung nach Aufklärung und Bildungsarbeit ist spätestens seit Ende des 2. Weltkrieges Konsens. Dennoch zeigen die Studien und der Vorfall, dass antisemitismuskritische Bildungsarbeit unzureichend und noch immer dringend notwendig ist.

Es gibt mehrere Schwierigkeiten antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Alle hier zu diskutieren, würde den Rahmen sprengen, daher möchte ich im Folgenden drei besonders hervorheben:

  1. Antisemitismus wird zum einen vielfach als ein historisches und mit der NS-Zeit überwundenes Phänomen begriffen. Als etwas, das als überwunden gedacht und verstanden wird, wodurch es zu einer Abwehr der Auseinandersetzung kommen kann. Dadurch fehlt wiederum den Sachkompetenzen häufig eine Aktualität.
  2. Zum anderen wird es gerne zum Problem „der Anderen“ gemacht. Als etwas, das von „außen“ kommt, das importiert wird.
  3. Daran anknüpfend bleibt so letztlich der wichtigste Punkt auf der Strecke: Selbstreflexivität. Das heißt, die Reflexion der eigenen Involviertheit, der eigenen antisemitischen Ressentiments.

Zum ersten Punkt gilt es sich in Erinnerung zu rufen, dass sich die Erscheinungsformen des Antisemitismus über die Jahrtausende verändert haben: vom Antijudaismus über den modernen rassistischen Antisemitismus zum heutigen israelbezogenen und sekundären Antisemitismus. Des Weiteren kam Antisemitismus stets im Gewand der im historischen Kontext legitimsten kulturellen Diskurse daher. War es zuvorderst die Religion, folgte später die sogenannte „Rassentheorie“, sind es heute die Menschenrechte (vgl. dazu „The Mutating Virus: Understanding Antisemitism„). Antisemitismus entwickelt sich somit entlang der sozialen Akzeptanz seiner Artikulationsbedingungen stets neu. Doch egal, in welcher Rhetorik Antisemitismus auftaucht, ihm liegt immer ein paranoid-projektives Welterklärungsprinzip zugrunde, worin „der Jude“/Israel als das absolut Böse und Mächtige schlechthin imaginiert wird. Hier unterscheidet sich Antisemitismus auch von Rassismus. Beruht dieses eher auf Zuschreibungen der Animalität, Primitivität und Mangel an Intelligenz, wird jenes als Übermacht, als identitätszerstörende Macht und als Antagonist der „eigenen“ Gemeinschaft phantasiert, dass nur durch Vernichtung das eigene Überleben ermögliche. Diese projektive Ebene ist zentral. Es handelt sich stets um Projektionen, nie um tatsächliche Eigenschaften. Neben dem Wissen um die veränderten Erscheinungs- und Artikulationsformen äußert sich die fehlende Sachkompetenz der Lehrer*innen im Verständnis um die projektive Ebene des Antisemitismus, nämlich dem Phantasma der „jüdischen Weltverschwörung“/einer „jüdischen Übermacht“, die die kollektiven Identitäten zerstören wolle. Das bedeutet für uns zweierlei: die Anerkennung, dass Antisemitismus nichts historisches ist, und die stetige Fortbildung und Auseinandersetzung, um seine aktuellen Formen erkennen und das Zerrbild seiner „Gesellschaftstheorie“ dechiffrieren zu können.

Nun ist es utopisch, von jeder und jedem zu verlangen, ausgewiesene Antisemitismus- und Nahost-Expert*innen zu sein. Ich würde aber behaupten, dass sich doch alle Lehrer*innen als Humanist*innen und Verfechter*innen liberaler Demokratie verstehen. Sofern sollten alle immer und überall jeder Form der Entmenschlichung und der Negation des Existenzrechts einer Personengruppe entgegentreten.

Der zweite Punkt berührt die Übertragung des Problems auf „die Anderen“. Die Übertragung geschieht auf allen Ebenen. Sei es auf der gesellschaftlichen Ebene, wo Antisemitismus als Problem migrantisierter Menschen deklariert wird. Sei es auf der institutionellen Ebene, wo es nicht als Problem der Schule, sondern als ausschließliches Problem der Schüler*innen wahrgenommen wird. Oder sei es auf individueller Ebene, wo sich jede und jeder gern als antisemitismuskritisch und vorurteilsfrei versteht und vergisst, dass Antisemitismus wie Sexismus und Rassismus Teil unserer Gesellschaft ist. Allen Ebenen liegt die kategorische Vorstellung zugrunde, antisemitisches Handeln sei ausgeschlossen. Tritt ein solches zutage, wird es als große Überraschung und Einzelfall verhandelt oder gilt als unerträgliche persönliche Beschuldigung. Dem liegt häufig das Missverständnis zugrunde, dass Antisemitismus nur in seinen extremen Ausprägungen erscheine. Diffuse und beiläufige Ausdrucksformen werden entweder übersehen oder bagatellisiert. Werden diese trotzdem problematisiert, antworten Lehrer*innen gerne mit einer gewissen Indifferenz. Vorfälle werden als „Ausrutscher“, „unbedeutende Ausnahmen“ oder „Scherze“ und „Provokationen“ abgetan, die keiner Aufmerksamkeit bedürften. Die Problematisierung erscheint ihnen als „Überreaktion“ oder „Überempfindlichkeit“. Dem liegt eine Zuschreibung von Motiven und Charaktereigenschaften der antisemitisch agierenden Menschen als entschuldigendes Moment zugrunde. Diese geläufige Reaktion kann als Angst der Lehrer*innen verstanden werden, das Problem in seiner Spezifität und seiner Gruppendynamik deutlich anzusprechen. Ebensolches Verhalten war deutlich am anfangs geschilderten Vorfall zu beobachten. Einige Lehrer*innen relativierten die Äußerungen als „unbedachte Scherze Jugendlicher“. Andere betonten die Charaktereigenschaften der Schüler*innen als lernstark und intelligent, um ihre Aussagen zu bagatellisieren und zu relativieren sowie die Konsequenzen und Sanktionen als übertrieben darzustellen. Wieder andere versteiften sich auf die Frage der Herkunft der Schüler*innen. Allen ist das Moment des Problems „der Anderen“ gemeinsam. Kein einziges Mal tauchte die Frage der Rolle und Funktion der Schule und der Lehrer*innen in ihrer Funktion als Aufklärer*innen und Träger*innen politischer Bildung auf. Mal wieder wurde das Problem individualisiert statt Strukturen zu hinterfragen. Bagatellisierung und die Verschiebung des Fokus auf „die Anderen“, sei es durch die Frage nach der Herkunft oder die Frage, warum sie das nicht in der Unterstufe gelernt haben, schienen im Vordergrund zu stehen.

An das oben Besprochene knüpft die Selbstreflexivität unmittelbar an. Darunter wird die eigene emotionale Verwicklung mit dem Thema, in unserem Fall mit Antisemitismus verstanden. Lehrer*innen sind nicht frei von tradierten und nicht selten unbewussten antisemitischen Affekt- und Denkstrukturen. Das heißt, keine und keiner von uns ist frei von Vorurteilen und Ressentiments. Wir sind in einer sexistischen, rassistischen und eben auch antisemitischen Gesellschaft aufgewachsen. Antisemitismus zeigt sich überwiegend in subtiler und diffuser Form wie Sexismus und Rassismus auch. Diese zu erkennen, aber eben auch nicht selbst zu reproduzieren, erfordert neben dem Wissen über seine historische und aktuelle Erscheinung vor allem die Reflexion seiner eigene Involviertheit. Das ist nicht einfach, weil es voraussetzt, sich der verunsichernden Erfahrung auszusetzen, Teil des Problems zu sein. Und das wiederum setzt voraus, sich von der Position der moralischen Überlegenheit zu verabschieden und sich als Lernende unter Lernenden zu begreifen. Mir scheint eben diese Position der moralischen Überlegenheit eine zu sein, die vielen Lehrer*innen schwer fällt, zu verlassen. Gleichzeitig ist sie ein wichtiger Ausgangspunkt für antisemitismuskritische Bildungsarbeit, weil es Grundvoraussetzung ist, eigene Denk- und Verhaltensweisen kritisch zu reflektieren, um Vorurteile zu erkennen und sie nicht zu reproduzieren.

Für Selbstreflexivität wird als Handlungsempfehlung zuvorderst angeführt, die eigene Problemwahrnehmung und das eigene Verständnis des Phänomens kritisch zu hinterfragen. Weiters gilt es, Wissenslücken zu erkennen und zu schließen. Und schlussendlich sollte die eigene Identität ins Verhältnis zur Kontinuität des Antisemitismus gesetzt werden. Die Frage der Identität ist zentral. In Krisenzeiten nehmen Fremd- und Selbstethnisierungen stark zu. Um Zuschreibungen vorzubeugen, bedarf es der Kompetenz, mit Uneindeutigkeiten, Brüchen und Widersprüchen in Identitätskonstellationen umzugehen. Ausgangspunkt antisemitismuskritischer (wie auch rassismus- und sexismuskritischer) Bildungsarbeit ist die Kritik an Zu- und Festschreibungen der Identität. Hier setzt Selbstreflexivität an. Sich selbst als Lernende*r aufzufassen, ermöglicht seine eigene Identität als unabgeschlossen, als widersprüchlich und uneindeutig zu begreifen. So kann es gelingen, die moralische Überlegenheit abzulegen, den moralischen Zeigefinger zu senken und sich dem stark angstbesetzten Thema zu nähern. Hierdurch könnte das Problem durchbrochen werden, es auf etwaige „Andere“ zu projizieren, wodurch die eigene Verantwortung abgelehnt und negiert wird (die vorgestellten und besprochenen Punkte beziehen sich auf „Umgang mit Antisemitismus in der Schule“ und auf „Aspekte antisemitismuskritischer Bildungsarbeit„).

Die besprochenen Punkte oszillieren zwischen persönlicher und struktureller Ebene.  Wie so oft bedarf es der Arbeit an beiden Enden. Jede*r Lehrer*in muss konsequent einschreiten und klar erklären, was antisemitisch ist. Dafür bedarf es einer gewissen Sachkompetenz und der Selbstreflexivität. Und es muss die Prävention an Schulen deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Es sollte Selbstverständnis einer Schule sein, antisemitismus-, rassismus- und sexismuskritische Bildungsarbeit anzubieten.

Denn derzeit scheinen Oberstufen eher zu erwarten, dass Prävention und Aufklärung ausreichend in der Unterstufe passiere bzw. dass das allein im Geschichtsunterricht Platz hätte. Je nach Schultyp variieren die Wochenstunden für Geschichte und/oder politische Bildung. Überall reicht die Anzahl jedoch nicht aus, um die Mannigfaltigkeit der Themengebiete ausreichend zu behandeln. Hier bedarf es einer Aufstockung der Wochenstunden oder der regelmäßigen Einbeziehung externer antisemitismuskritischer Bildungsexpert*innen für die ersten Jahrgänge.

Außerdem scheint in Schulen nach antisemitischen Vorfällen häufig die Repression zu überwiegen. Diese ist ein wichtiges Mittel; in meinen Augen allerdings erst, nachdem mehrmalige Interventionen im Sande verlaufen sind. Prävention und Intervention müssen verstärkt in die Schulstandorte aufgenommen werden. Hier bedarf es von Seiten der Leitung intensiver Bemühungen externe Expert*innen regelmäßigen einzuladen und von Seiten der Lehrer*innen die Selbstarbeit, wie ich sie weiter oben umrissen habe. Interessanterweise gibt es Parallelen zwischen den Bildungszielen für Schüler*innen und jenen für Lehrer*innen. Vorderdringlichste Bildungsziele sind demnach Geschichte, Funktion und Manifestationen des Antisemitismus erkennen können, Selbstreflexion und eigene Gefühle wahrnehmen und über sie sprechen können, Empathie und Rollendistanz durch die Einbeziehung jüdischer Perspektiven, Stärkung der Individualität und dadurch die Fähigkeit „Nein“ zu sagen, um antisemitischen und letztlich menschenfeindlichen Aussagen entgegentreten zu können, und zu guter Letzt die Vermittlung alternativer Männlichkeitsbilder abseits von Starksein, Hartsein und Emotionslosigkeit (vgl. „Erziehung wozu? Holocaust und Rechtsextremismus in der Schule„). Das wiederum bestärkt das Verständnis der Lernenden unter Lernenden.

Dieser schulische Fokus auf Repression verunmöglicht eine weitere entscheidende Komponente: die Beziehungsarbeit. Ohne Beziehungsarbeit ist die Selbstreflexion sowie die Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Ängsten für Schüler*innen nicht möglich. Antisemitismus beruht aber in großen Teilen auf Angst und Paranoia. Um diese zu reduzieren, wird auf vereinfachende Welterklärungen zurückgegriffen, um Orientierung in einer komplexen, sich schnell verändernden und vielschichtigen Realität zu bekommen.

Die Abmeldung oder die Versetzung von Schüler*innen, die antisemitisch gehandelt haben, ist eine Möglichkeit, um die Gruppendynamik aufzubrechen und Betroffene vor weiteren Übergriffen zu schützen. Es darf aber nicht alles sein. Denn gerade ideologische Fragmente lassen sich durch Irritation auflösen. Doch ohne Aufarbeitung und ohne persönliche Auseinandersetzung werden antisemitische Fragmente in der Weltsicht der Schüler*innen nicht dechiffriert werden.

Schulen und Lehrer*innen müssen sich dem Antisemitismus an Schulen in meinen Augen verstärkt annehmen. Es gibt gute schulexterne antisemitismuskritische Bildungsangebote. Sie müssen nur genützt werden. Die Reaktionen im Kollegium lassen darauf schließen, dass Antisemitismus als Problem der „Anderen“ wahrgenommen wird bzw. antisemitische Äußerungen bagatellisiert und relativiert werden. Das wiederum unterstreicht die Erkenntnis, dass Sachkompetenz und moralischer Anspruch stark auseinanderklaffen. Das muss sich ändern!

Jonathan Herkommer ist Lehrer an einer BHAK in Wien.


Quellen:

Antisemitismus in der Schule„, Melisa Erkurt im Falter 21/20 (4.4.21)

Antisemitismus ‚ist kein Randphänomen‘„, ORF (4.4.21)

Sekundärer Antisemitismus„, Malte Holler auf Anders Denken (5.4.21)

Israelbezogener Antisemitismus„, Lars Rensmann für die Bundeszentrale für politische Bildung (5.4.21)

The Mutating Virus: Understanding Antisemitism„, Rede von Rabbi Lord Jonathan Sacks (5.4.21)

Umgang mit Antisemitismus in der Schule„, Julia Bernstein für die Bundeszentrale für politische Bildung (8.4.21)

Aspekte antisemitismuskritischer Bildungsarbeit„, Wolfram Stender für die Bundeszentrale für politische Bildung (8.4.21)

Erziehung wozu? Holocaust und Rechtsextremismus in der Schule„, Andreas Peham und Elke Rajal auf erinnern.at (8.4.21)

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Im Ausnahmezustand

Seit März 2020 herrscht in der österreichischen Bildungslandschaft der Corona-bedingte Ausnahmezustand.  Schule auf, Schule zu. Schulen bieten Betreuung an.  Schulen arbeiten im Schichtbetrieb. Oberstes Gebot: die Durchmischung von Schüler*innen aus unterschiedlichen Gruppen soll vermieden werden. Damit gibt es an unserer Schule zum Beispiel keine unverbindlichen Übungen, leider. Detail am Rande, Religion findet weiter statt. Für Unwissende: In diesem Gegenstand werden sogar Schüler*innen unterschiedlicher Schulen gemeinsam unterrichtet.

Deutschförderklassen

Noch einmal zur Information: In den Deutschförderklassen sitzen 20 Stunden in der Woche Schüler*innen unterschiedlicher Schulstufen und Klassen. Neun Stunden müssen sie in jener Klasse verbringen, die als Stammklasse bezeichnet wird. Weil aber keine Durchmischung stattfinden darf, gibt es seit Monaten die neun Stunden in den Stammklassen nicht mehr. Auch die Förderung jener Schüler*innen, denen zusätzliche Förderung in der Unterrichtssprache zusteht, stellt eine Herausforderung dar. So die Kapazität in den einzelnen Schulen gegeben ist, kann sie im besten Fall als Einzelförderung angeboten werden.

Deutschförderklassen in der Corona-Zeit

Nach vier Stunden Unterricht in der der Deutschförderklasse erkenne ich: nichts geht mehr.  Ja, schon klar, vier Stunden Unterricht oder mehr schaffen sogar die Schüler*innen der Volksschule. Vier Stunden Konzentration und hohe Aufmerksamkeit müssen doch möglich sein. Das dachte ich auch lange Zeit, aber vier Stunden eine fremde Sprache lernen, ist so etwas wie Hochleistungssport. Denn für meine Schüler*innen bedeutet das, vier Stunden das, was ich spreche und schreibe, in die Muttersprache und anschließend wieder in die Unterrichtssprache zu übersetzen. 

Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich mich ernsthaft frage, wer sich das Konzept der Deutschförderklassen ausgedacht hat. War den Entwickler*innen dieses Modells klar, dass wir Jugendliche und Kinder, keine Roboter, unterrichten?  Dass es nicht genügt Wissen in Kinderköpfe zu stopfen, völlig egal ob nun die Rahmenbedingungen passen oder nicht? Dass Kinder und Jugendliche keine Festplatte im Kopf haben, die unendlich viele Bytes speichern kann? Zusätzlich wirft sich die Frage in mir auf, ob man in diesen für alle Kinder und Jugendlichen belastenden Zeiten, auf jene aus den Deutschförderklassen vergessen hat.

Im Augarten

Wir packen unsere Sachen und gehen in den Augarten. Vorher fragt Sefa* mich, ob er denn seinen Hund von zuhause holen dürfte. Um ein „Nein“ auszuschließen, zeigt er mir das Foto eines wunderbaren, knuffigen Fellknäuels, das Şans heißt. Glück ist die deutsche Übersetzung. Sefa ist ein lebhafter und kommunikativer Junge. Er will sich austauschen, er will erzählen, lachen und Spaß haben. Er blüht auf, wenn zu meiner Unterstützung jene Kollegin in der Klasse ist, die seine Muttersprache spricht.  Fragt ihr Löcher in den Bauch, fordert mehr Arbeitsblätter. “Er will schön schreiben lernen,” erklärt mir die Kollegin. Erst jetzt sehe ich, dass Sefa unendlich viele Zeilen mit Buchstaben gefüllt hat. Wie soll ich in dem System Deutschförderklasse diesem begabten und motivierten Jungen gerecht werden? In diesem einseitigen Konzept, dass die Unterrichtssprache über alles stellt? Keine Chance!

Wir lassen uns überreden und nehmen Şans mit. Die Gruppe scharrt sich um Hund und Kind. Alle wollen sie die Leine halten, bis auf Rahed*. Den Hund hat Sefas Mutter im Übrigen deshalb gekauft, weil Sefa einsam ist. Er hat nach acht Monaten in Wien keinen einzigen Freund. So kommt er wenigstens, mal abgesehen von der Schule, ein bisschen nach draußen. Ich beobachte Sefa und Şans. Sie sind ein tolles Team. Sefa zeigt mir, wie er mit dem Hund Nachlaufen spielt und welche Kunststücke er schon kann. Aber als Ersatz für einen Freund, der Deutsch und Türkisch spricht, ist dieser entzückende Vierbeiner nicht die allerbeste Option.

Im Augarten scheint die Sonne und die Stimmung der Kinder hebt sich. “Winter weg,” erklärt mir Alejandra* freudestrahlend. “Frühling, Sommer, Herbst, Winter!,” wirft Rahed ein. Alejandra kommt aus Argentinien, Rahed aus Pakistan. Genauso wie Sefa haben sie in Wien keine Freunde. Alejandra läuft zu Sefa und Şans. Rahed bleibt bei mir. Er deutet auf Gegenstände und fragt bei jedem: “Was ist das?” “Hund, nein. Nicht schön,” sagt er. Es stellt sich heraus, dass er Angst vor Hunden hat. 

Nach sieben bis acht Monaten halten sich die Fortschritte in der Unterrichtssprache in Grenzen. Gemeinsame Kommunikation findet über ein paar Wortgruppen statt. Aber ehrlich, wen wundert es? Wie sollen sie denn kommunizieren lernen, wenn es so gut wie keine Sprachvorbilder in der Klasse gibt? Wie sollen sie vom Unterricht profitieren, wenn das erforderliche Sprachbad für den Erwerb der Zweitsprache nicht gegeben ist?

Der Begriff Sprach­bad bezeich­net das sprach­li­che Umfeld, in dem sich Zweit­spra­chen­ler­ner befin­den und in dem sie am Unter­richt und/oder am All­tag im Ziel­spra­chen­land oder einem ziel­sprach­li­chen Umfeld teil­neh­men. Damit das Sprachbad, die Immersion, lernförderlich für den Spracherwerb sein kann, muss es ausreichend sprachlich anspruchsvollen, aber zu bewältigenden Input beinhalten.

Die einzigen, die in dieser Gruppe miteinander Deutsch sprechen, sind meine Kolleg*innen und ich. Klar, meine Schüler*innen befassen sich miteinander. Meistens dann, wenn ich sie im Rahmen des Unterrichts dazu zwinge, oder wenn sie gemeinsam „UNO“ oder „Mensch ärgere dich nicht“ spielen. Mit Ende des Unterrichts schwirren sie alle in verschiedene Richtungen nach Hause, haben außerhalb der Schule keinen Kontakt miteinander. Alejandra und Sefa erzählen mir, dass sie am Nachmittag über die unterschiedlichen Messenger mit den Freund*innen aus der alten Heimat schreiben. An Tagen, an denen mich dieses System viel zu viel Kraft kostet, macht mich das unendlich traurig. 

Seit Wochen hadere ich mit mir selbst. Ich würde diesen Kindern und Jugendlichen so gerne viel mehr bieten. Bin ich verantwortlich für die geringen Fortschritte? An allem kann Corona nicht schuld sein? Wieso hat man überhaupt so eine systematische Ausgrenzung als Unterrichtsprinzip zugelassen?

Aber was kann ich ihnen bieten? Vieles ist in diesen Zeiten nicht erlaubt. Manchmal bin ich richtig froh, wenn wir Schüler*innen aus anderen Klassen im Park treffen. Meine Freude überträgt sich leider nicht auf die Kinder und Jugendlichen meiner Klasse. Sie bleiben wieder unter sich. Und das bedeutet, die sitzen auf unterschiedlichen Parkbänken und starren in ihre Handys, und wenn diese nicht erlaubt sind, starren sie eben in die Luft. Mit sanftem Druck von meiner Seite nähern sich manche vorsichtig aneinander an. Wobei ich mich dabei auch nicht gut fühle. Nur, was wäre die Alternative?

Nur so eine Idee

Mir ist klar, dass vieles den Umständen der Corona-Zeit geschuldet ist, aber warum wurde nicht, als absehbar war, dass regulärer Unterricht nicht stattfinden kann, das Modell Deutschförderklasse mitsamt den MIKA-Testungen auf Eis gelegt? Die Schüler*innen der Deutschförderklassen hätten in ihre Stammklassen zurückkehren können. In diesen lernen momentan nur 10 bis 12 Kinder gemeinsam. Ein Rahmen, der genug Raum überließe, um gezielt und effizient zu fördern. Jene Kolleg*innen, deren Stunden in den Deutschförderklassen wegfallen, hätten dann noch Einzelförderung übernehmen können. Wäre damit nicht allen geholfen gewesen?

Und, sollte nach Ostern der Schulbetrieb in der Form weitergehen, könnte man nicht ab diesem Zeitpunkt alle Deutschförderklassen bis zum Beginn der großen Ferien schließen? In drei Monaten könnte sich auf diese Weise viel mehr bewegen als in drei Monaten weiterer Isolation. Zusätzlich könnten wir die Schüler*innen am Nachmittag und während des Unterrichts weiter betreuen. Denn in drei Monaten sind Sommerferien. In drei Monaten können zumindest zaghafte Freundschaften entstehen. Die wiederum würden verhindern, dass die Kinder und Jugendlichen der Deutschförderklassen neun Wochen in Einsamkeit verbringen, und dass die minimalen Fortschritte in der Unterrichtssprache nicht völlig verloren gehen.

*Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

Lesezeit: 3 Minuten

Damals

Meine Großeltern kommen aus dem damaligen Jugoslawien. In den 1960er Jahren kamen sie, wie viele andere, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben nach Österreich. Dort lernten sie sich kennen. Meine Mutter wurde dann schon in Wien geboren.

Obwohl beide in Wien geboren wurden, erzählt meine Mutter ganz anders über ihre Schulzeit als mein Vater. Auch ihr Bildungsweg verlief sehr anders, obwohl die beiden Leben sich schon sehr früh kreuzten. Mit 10 Jahren waren beide am vermeintlich selben Punkt angekommen: eine erste Klasse in einem Gymnasium in Wien.

Der Weg trennt sich

Nach der 2. Klasse wechselte meine Mutter allerdings in die Hauptschule, mit einem Nicht genügend in Mathematik. Ein einziges Nicht genügend. Mit ein bisschen Nachhilfe wäre es vielleicht nicht so weit gekommen, aber Nachhilfe war in ihrer Familie kein Thema. Dazu war einerseits das Geld nicht da, andererseits sah man darin auch keinen Sinn. Auch die Lehrer*innen waren keine Hilfe: „Tschuschnkinder haben hier nichts verloren.“ Meine Mutter beendete schließlich die Hauptschule und machte eine Lehre. Sie hat ihren Weg gefunden. Dass sie nicht am Gymnasium bleiben konnte, die Matura gemacht hat und vielleicht sogar studieren war, das ist bis heute ein wunder Punkt.

Heute

Dreißig Jahre später. Durch Zufälle bin ich Lehrerin geworden. Meine eigene Schullaufbahn verlief unspektakulär. Auch wenn ich selbst keinen Migrationshintergrund habe (beide Eltern in Österreich geboren) – die Geschichte meiner Mutter ist ein Teil von mir.

Seit einigen Jahren unterrichte ich nun an einer Mittelschule. Die Hauptschule, nur mit neuem Namen. Und immer wieder frage ich mich – erging es meiner Mutter genauso wie einigen meiner Schüler*innen?

Sabina*, 14 Jahre. Sabina war auch ein Jahr am Gymnasium, bevor sie mit einem Fünfer in Mathematik an die Mittelschule wechselte. Ich unterrichtete Sabina in meinem ersten Lehrjahr. Sie war damals in einer 3. Klasse. Sie war eine der besten Schüler*innen der Klasse, eigentlich wirkte sie die meiste Zeit unterfordert. Als ich sie nach ihren Erfahrungen am Gymnasium fragte, meinte sie, sie hatte nicht das Gefühl, das man sie dort haben wollte. Die Lehrer*innen hätten sie kaum unterstützt, und immer wieder Kommentare über ihren Migrationshintergrund gemacht. Ihre Texte wurden anders benotet. Dabei spricht Sabina perfektes Deutsch.

Marina*, 16 Jahre. Als ich Marina das erste Mal traf, war sie erst seit wenigen Wochen in Österreich. Sie saß in einer ersten Klasse Mittelschule, obwohl sie eigentlich schon 12 Jahre alt war und in ihrem Herkunftsland schon sechs Jahre Schulbildung hinter sich hatte. So kann sie sich zumindest vorerst auf das Deutschlernen konzentrieren, dachten wir uns. Nach einigen Wochen war klar: Marina lernt schnell. Zwei Jahre später war sie Klassenbeste. Und sie hatte einen Traum: Ärztin werden. Also entschieden wir gemeinsam mit ihr und ihrer Familie, dass ein Wechsel ins Gymnasium das beste für sie wäre. Am Ende ihres ersten Schuljahres im Gymnasium telefonierten wir. Sie erzählte davon, wie schwierig es war dort anzukommen. Die Deutschlehrerin fragte sie, warum sie denn überhaupt gewechselt hätte, wenn sie doch nicht perfekt Deutsch kann. Der Mathematiklehrer meinte, sie wäre selbst Schuld wenn sie Themen, die sie an der Mittelschule noch nicht gelernt hatte, nicht beherrschen würde. Sogar die Sportlehrerin fragte sie, ob sie denn an der Mittelschule nichts gelernt hätte. Ich wusste nicht, was ich Marina sagen sollte. Sie meinte, wenigstens die Mitschüler*innen hatten gesehen, wie sehr sie sich anstrengte und wie gut sie in kurzer Zeit Deutsch gelernt hatte.

Alen*, 10 Jahre. Alen ist der Sohn einer Verwandten mütterlicherseits. Er schloss die Volksschule mit einem ausgezeichneten Erfolg ab, nur Einser und ein paar Zweier. Ich fragte meine Verwandte, ob er nun ins Gymnasium gehen würde. Sie verneinte. Die Volksschullehrerin meinte, dass die Mittelschule der bessere Weg für ihn sei. Und sie weiß auch nicht, wie sie ihn im Gymnasium gut unterstützen kann. Also kommt er eben in die Mittelschule.

Man könnte sagen, diese Geschichten sind Einzelfälle. Wer einen tieferen Einblick in dieses System bekommen hat, der weiß: Das sind keine Einzelfälle. Das ist struktureller Rassismus. „Tschuschnkind“ sagt zwar niemand mehr, aber sonst hat sich seit dreißig Jahren kaum etwas verändert: wer Migrationshintergrund hat, dem werden in unserem Bildungssystem viele Steine in den Weg gelegt.

*Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.