Queere Pädagogik

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Schule als ein zentraler Ort der Sozialisation und Wissensvermittlung trägt maßgeblich zur Bewusstseins- und Wissensbildung von Kindern bei. Zudem ist sie neben den Bezugspersonen und den Peer-Groups die wichtigste Quelle für sexuelle Aufklärung. Angesichts der Autorität der Schule und der Lehrer:innen verfügen die ausgewählten Lernmittel zur Wissensvermittlung und (sexuellen) Aufklärung nicht nur über mehr Gehör, sondern auch über mehr Gewicht. Wie Lehrer:innen über geschlechtliche und sexuelle Norm(alität) sprechen hat daher hohe soziale Wirkmacht und Normalisierungsgrad.

Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Er versteht sich als ein Appell für eine queere Pädagogik, die mit Ungewissheit und Heterogenität umzugehen weiß und fähig ist, sexuelle und geschlechtliche Subjektivität als unabgeschlossenen und selbstbestimmten Prozess zu begreifen. Die Würde und die Selbstbestimmung des Menschen und der Diskriminierungsschutz sind die leitenden Grundprinzipien des vorliegenden Beitrags.

Der Philosoph Paul B. Preciado bezeichnet Schule als ersten Ort, an welchem Kinder zu sagen lernten, wir, die Jungen, seien nicht wie sie, die Mädchen. Die binäre Vergeschlechtlichung verfestige sich durch die an der Schule dominante Sprache, die Sprache der „heimlichen und dumpfen Gewalt der Norm“. Ihrem Anschein nach asexuell und neutral, habe sich die Schule als Disziplinaranstalt der Normalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität verschrieben. Paul B. Preciado hat die Auffassung, dass in Bildungseinrichtungen daher Vorkehrungen getroffen werden müssten, die der „konstitutive(n) Beziehung zwischen Pädagogik, Gewalt und Normalität“ ein Ende setzen.

Das teile ich. Daher schlage ich mit Paul B. Preciado vor, der Einzigartigkeit und der Vielfalt menschlicher Existenz und Körper mehr pädagogische Beachtung zu schenken. Dafür schlage ich eine queere Pädagogik vor, die von folgenden Annahmen geleitet ist.

Die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit als Naturtatsache bildet den vermutlich härtesten Stabilitätskern des Alltagswissen. Queere Literaturdidaktik rüttelt über die Textwahl und Aufbereitung eben daran. Dadurch öffnet sie Denk- und Vorstellräume, um über den eignen Körper, über Zugehörigkeiten und eigene sowie fremde Kategorisierungen und Erwartungshaltungen zu reflektieren. Sie beleuchtet das Nichtgesagte der Aufforderung: „Sei du selbst“, wo stets der Anhang verschwiegen wird, dass du nur du selbst sein kannst, solange du dich innerhalb der sozialen Normen von „männlich“ und „weiblich“ bewegst. Verlässt du sie, bist du schnell „zu viel“ bzw. nicht intelligibel. Vermittelst verschiedener sozialer Ächtungsmethoden werden queere Menschen diszipliniert. Sie erfahren für das ausgelöste Unwohlsein von Beschämung bis hin zu (tödlicher) Gewalt alles. Statt sich ihrem eigenen Unwohlsein zu stellen, projizieren verunsicherte Menschen ihre ausgelöste Angst und Wut auf die auslösende Person.

Bauen Menschen ihre Geschlechtsidentität überwiegend auf der sozialen Identität/Kategorie „Mann“/“Frau“ auf, fühlen sie sich durch queere Menschen in ihrem Selbstverständnis als „Mann“ verunsichert bis hin zu bedroht. Diese subjektive Wahrnehmung von Bedrohung ruft Vorurteile und diskriminierendes Verhalten hervor, selbst wenn sich die wahrgenommene Bedrohung allein auf symbolische Ressourcen wie Normen, Werte oder Moralvorstellung bezieht. Nicht-geschlechterkonforme Menschen widersprechen der Heteronormativität. Ergo irritieren sie traditionelle Normen. Je stärker nun die Bedrohung der eigenen Gruppe wahrgenommen wird, desto negativer die Einstellungen und das Verhalten. Eine starke Selbstkategorisierung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe (z.B.: „Mann“) kann zu einer De-Personalisierung führen. Dabei wird das eigene Verhalten nicht mehr durch individuelle Normen und Werte, sondern überwiegend durch Normen und Werte der Gruppe geleitet. Unterschiede in der eigenen Gruppe werden geringer gemacht, wohingegen Unterschiede zur anderen Gruppe als stark wahrgenommen werden. So kann ein Kind selbst unter Ausgrenzung und Beschämung leiden, in einer subjektiven Bedrohungswahrnehmung dennoch selbst an Beschämung und anderen Gewaltformen beteiligt sein. Die teils paranoische Bedrohungsagitation verdeutlicht in meinen Augen, eine größere Verhaftung innerhalb der sozialen als der persönlichen Identität.

Gleichwohl offenbart sie die Fragilität und Zerbrechlichkeit sozialer Normen. Geschlechtsidentität offenbart sich als komplexe Inszenierung, die einer immerwährenden Wiederholung, eines ständigen Zitierens ihrer selbst bedarf. Sie ist als soziales Normierungsverfahren (Kategorisierung) aufzufassen, die lediglich produziert, was sie deklariert. Nichtsdestotrotz ist unsere Existenz an soziale Normen gekoppelt, weil wir ohne Anerkennung nicht zu existieren vermögen und so auf eine Selbstverhaftung an soziale Normen angewiesen sind. Normen haben in sich die Unmöglichkeit des Erfüllens eingeschrieben. Sie sind für jede:n unerreichbar. Setzen wir uns mit der Norm(alität) in Bezug, so bemerken wir schnell, dass ihre Annahmen in unterschiedlichster Art und Weise auf uns zu treffen. Anders gesagt: Die Annahme eine klare Zuordnung, wann ein „Mann“ ein „Mann“ und eine „Frau“ eine „Frau“ sei, ist nicht so einfach zu treffen, wie oft behauptet wird. Genitalien, Muskeln, Haare, Hormonstatus, Körper im Allgemeinen treten in vielfältigen Variationen auf. Geschlecht wird im Alltagsverständnis unterschätzt, denn Geschlecht ist nicht binär. Unsere Vorstellung von einer einfachen, unstrittigen Einteilung in Mann und Frau ist schlichtweg falsch. Genauso wie die Annahme das Genital allein sei für die Geschlechtsidentität ausschlaggebend. Es gibt über 2000 intergeschlechtliche Variationen, die häufig bis ins höhere Alter oder das ganze Leben unentdeckt bleiben können. Körper sind einzigartig und Geschlecht ein Kontinuum und somit hat Geschlecht mehr Schattierungen, als die schwarz-weiße Malerei behaupten möchte. Abschließend möge folgendes Zitat als Anregung dienlich sein: „Definitionen definieren denjenigen, der definiert, nicht diejenigen, die definiert werden.“

Eine queere Pädagogik eröffnet die Möglichkeit darüber ins Reden zu kommen. Sie stellt Kreativität vor Normativität und ermutigt Kindern selbstbestimmtes Handeln und Denken. Indem sie sich mit sozialen und familiären Erwartungshaltungen sowie sozialen Kategorisierungen auseinandersetzt, ermöglicht sie Geschlechtszugehörigkeiten nicht länger als Körperdeterminiert anzusehen, sondern die normative Kausalitätskette Köper – Geschlecht – Begehren aufzulösen. Sie dekonstruiert den Glauben, dass es nur die Opposition „Mann“ und „Frau“ gäbe, dass „Männlichkeit“ nur für „Männer“ und „Weiblichkeit“ nur für „Frauen“ wäre und dass dies die einzigen Optionen für Selbstausdruck und Selbstverständnis wären.

Queere Pädagogik ist von der Frage geleitet, ob jede:jeder wirklich sie:er selbst sein darf? Sie möchte der Angst vor dem Unbekannten, dem Komplexen und der menschlichen Vielfalt mit Kraft und Zuversicht begegnen. Denn das Unbekannte stellt das, was wir über uns zu wissen glauben, immer wieder in Frage. Das ist gut, weil es Selbstreflexivität und Offenheit gegenüber Transformationen fördert. Und das sollte etwas zum Feiern und nicht zum Fürchten sein. Dadurch verhelfen wir Kindern eine starke, selbstkritische und vorurteilsbewusste persönliche Identität aufzubauen, die sich an der Würde jedes Menschen, der Selbstbestimmtheit und dem Diskriminierungsverbot orientieren.

Jonathan Herkommer

 

Quellen:

Paul B. Preciado. Ein Apartment auf dem Uranus. Berlin 2020. S. 196. und S. 198

 Vgl.Daniel Geschke. Vorurteile, Differenzierung und Diskriminierung – sozialpsychologische Erklärungsansätze. 16.04.2012. bpb.de (https://t1p.de/egx6e)

 Vgl. Alok Vaid-Menon. Beyond The Gender Binary. New York 2020. 17-36.

 Francesca Melandri. Alle außer mir. Berlin 2018. S. 285.

2 Kommentare
  1. Hedy Wagner
    Hedy Wagner sagte:

    Queere Pädagogik
    Wohin geht die Reise – im ersten Absatz dargestellt: Sexualität. „Sex sells“, doch schon hier ist anzumerken, dass bei „qeeren“ Themen oftmals die Gegebenheiten auf die Sexualität reduziert sind. Ebenso ist in der Folge im „Manifest für queere Pädagogik“ nicht klar auszumachen, welche queeren Themen nun alle „mitgemeint“ sind (und nein, Sie sind auch in diesem vorliegenden Umfang nicht ausreichend dargestellt).
    Besonders bei der sexuellen Aufklärung reicht das Repertoire der Lehrer*innen lediglich für das Setzen von Irritationen – von einer hohen Wirkmacht zu sprechen erstaunt. Gilt es auch gegen religiöse Interpretationen aufzutreten.
    Auch wenn es über 2000 intergeschlechtliche Variationen geben mag, ist biologisch gesehen, die Zuordnung: Geschlecht weiblich/männlich/Variation des Geschlechts: Intergeschlechtlich) – die sozialen Kategorien sind unendlich.
    In diesem Artikel ist zurecht die Kritik an Normen thematisiert, meine Frage ist von einer anderen Seite: Wie viele Interpretationen erlaubt eine Gesellschaft, die Rolle eines Mannes und einer Frau zu leben? Offenbar wird es hier immer „enger“ – sodass Transformationswege eine Möglichkeit sind, dieser Enge zu entkommen. Nebstbei nur 20 % der Geschlechtsdysphorie im Kindesalter persistieren bis ins Erwachsenenalter, bei den übrigen Kindern kommt eine homosexuelle Orientierung überdurchschnittlich häufig vor. Das Fortbestehen von Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter ist häufiger zu finden (Sozialministerium: Transgender-Empfehlung).
    Schule hat die Aufgabe und die Pflicht einen diskriminierungsfreien Raum zu ermöglichen. Für alle Kinder und Jugendlichen. Schule muss auch nicht feiern, sondern darf den unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und der sexuellen Vielfalt unaufgeregt und mit Gelassenheit gegenüber stehen. Sie feiert auch nicht andere Begebenheiten in der Schule: soziales Ungleichgewicht, Depressionen, Rassismus, Gewalt in Familien, Be-hinderungen …
    Wir begleiten pädagogisch und humanistisch geprägt Kinder und Jugendliche auf ihren Weg. Bestenfalls. Und wenn uns dies gelingt, dann verhelfen wir in der Tat den Kindern gut gerüstet weiterzugehen.
    Hedy Wagner
    PS: Detransition ist ebenfalls gegeben. Wie leben Sie damit, wenn Sie junge Menschen ob ihrer queeren Identität gefeiert haben (Ihre Wirkungsmacht) und Menschen zu einem späteren Zeitpunkt eine Detransition durchführen.
    Und wenn Sie sich noch in andere Identitätsthemen einlesen möchten, überlegen Sie bitte, wie wir dann in der Schule mit Otherkin-Menschen umgehen – befürchte jedoch, dieses Thema verkauft sich nicht so gut.

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    • Jonathan Herkommer
      Jonathan Herkommer sagte:

      Sex sells? Diese Unterstellung bei Queerness verwundert mich! Vielmehr konfrontiert dich das öffentliche Sprechen über Queerness mit Ablehnung und Hass.

      Mein Text hatte nicht den Anspruch, Unterrichtsmaterial zu liefern, sondern den Wunsch eine Haltung, nämlich die einer Queeren Pädagogik zu umreißen sowie die Wichtigkeit derselben hervorzuheben. Irritieren heißt Perspektivwechsel zu ermöglichen, heißt Empathie zu lernen, heißt andere, die nicht so sind wie ich, akzeptieren zu können. Ob ich mit anderen Menschen die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt feiere oder sie nur akzeptiere, ist jedem selbst überlassen.
      Eine Diskriminierungsstruktur hervorheben heißt außerdem nicht, andere Ungleichheitssysteme zu ignorieren. Mir dieses zu unterstellen ist klassischer Whataboutism. Ja, es gibt viele weitere Unterdrückungsmechanismen, doch mir ging es um heteronormative.

      Ihre Sorge, „Transformationswege“ wären eine Möglichkeit, engen Geschlechterrollen zu entfliehen, lehne ich entschieden ab. Eine Transition ist höchst individuell, hat jedoch häufig das Bedürfnis Körper und Geschlechtsidentität in Einklang zu bringen – das hat nichts mit sich Schminken wollen oder Misogynie entfliehen wollen zu tun wie es Alice Schwarzer und andere terfs glauben lassen wollen
      Nebstbei schlägt Queere Pädagogik keinerlei Vorgehensweisen bei Transitions vor. Hingegen bemüht sie sich um einen safe space für alle Menschen und klärt über Geschlechtsidentität – Körper – Sexualität – Begehren auf, ohne in heteronormative Denkmuster zurückzufallen.

      Zu guter Letzt: Queere Pädagogik unterstützt junge Menschen auf ihrem geschlechtlichen und sexuellen Findungsprozess, ohne sie in binäre Kategorien zwingen zu wollen. Wie Jugendliche diesen Weg schlussendlich gehen, liegt sicherlich nicht in den Händen der Lehrer:innen. Sie (und die Schule allgmein) sollten jedoch nicht zusätzlich homo- und transfeindlich sein, das ist die Öffentlichkeit schon zur Genüge. Das zeigt sich auch in den hohen Zahlen der Gewaltopfer, wo trans Jugendliche überproportional betroffen sind. Ebenso bei Autoaggression. Das liegt maßgeblich am feindlich gesinnten und nicht verständnisvollen engen sozialen Umfeld!

      PS: Vielleicht haben Sie Interesse über den schulischen Umgang mit Otherkin-Menschen zu schreiben?

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