Pausengespräche unter Schüler*innen
Ich liebe Gangaufsichten. Sie geben mir die Möglichkeit Schüler*innen mal abseits des Unterrichtsgeschehens zu erleben. Jetzt gerade beobachte ich zwei Mädchen. Sie reden laut, stecken die Köpfe zusammen und lachen. Genau diese zwei Schüler*innen nehme ich während des Unterrichts selten so lebhaft und schon gar nicht so laut wahr. Wenn ich sie etwas frage, muss ich mich sehr konzentrieren, damit ich sie rein akustisch verstehe. Cool, denke ich mir, sie leben ja doch. Da mischt sich Berdan*, ein Klassenkollege der Mädchen ein. “Deitsch redn!,” schreit er und blickt mich erwartungsvoll an. Vermutlich ist ihm genau in diesem Moment nach Lob. Die Mädchen schauen ihn entgeistert an, verstummen und ziehen sich in die Klasse zurück. Ich gehe zu Berdan, frage ihn, warum er dieses Gespräch unterbrochen hat. “Ist respektlos, wenn die in ihrer Muttersprache reden,” erklärt er mir, und ich wundere mich. Mein Erstaunen ist deshalb so groß, weil Berdan und die Mädchen die gleiche Erstsprache haben.
Pausengespräche im Lehrer*innenzimmer
Seit September 2020 haben wir eine neue Schülerin in der Deutschförderklasse. Ihre Muttersprache ist Spanisch. Bewunderung und Freude macht sich im Lehrer*innenzimmer breit. “Wow, sie spricht Spanisch!” “Wollte ich immer schon mal lernen.” “ Du kannst sie ja gleich fragen.” Eine andere Kollegin kratzt die sprachlichen Reste vergangener Spanienurlaube zusammen und gibt diese zum Besten. Ähnlich wie der Schüler am Gang sucht auch sie nach Anerkennung. “Çok güzel,“ murmle ich. Das bedeutet „wunderschön“ und passt so gar nicht, aber mir war danach. Meinen leisen Protest hat vermutlich ohnehin niemand verstanden, außer vielleicht jene Kollegin, die bei uns den Alphabetisierungskurs leitet. Sie lacht mich an.
Die eine und die andere Muttersprache
Ich habe an diesem Tag viel gelernt. Die eine Sprache spricht man nicht, weil es respektlos ist, die andere darf man im Lehrer*innenzimmer sprechen, auch wenn sie keiner versteht. Bei der einen Sprache bekommt man Probleme, bei der anderen Anerkennung. Es gehört sich nicht, Türkisch im Beisein anderer zu sprechen, zeugt von schlechtem Benehmen und mangelhafter Erziehung. Wer die richtige Sprache verwendet, hat es, so ist die weit verbreitete Meinung, geschafft und ist ein wertvolles integriertes Mitglied der Gesellschaft. Vermutlich ist das auch der Grund, warum sich konservative Politiker*innen immer wieder für ein offizielles Deutschsprechgebot einsetzen. Aber lässt sich Integration tatsächlich nur an Sprache festmachen? Ich glaube nicht.
Der Wert der Sprache
Jede Aufforderung sich doch nicht in der Muttersprache zu unterhalten, vermittelt jenen Schüler*innen, die Deutsch als Zweit- oder Drittsprache haben, dass ihre erste Sprache nichts wert ist. Der Gebrauch derselben ist respektlos und zeugt von schlechtem Benehmen, wird gelehrt. Diese Wertigkeit führt aber nicht dazu, dass viel lieber und mit viel mehr Motivation Deutsch gesprochen wird, sondern sie lässt Schüler*innen verstummen. Kein Mensch kann mit Freude lernen, wenn er oder sie nicht als vollwertiger Mensch anerkannt wird. „Die eigene Sprache ist nichts wert“ ist nämlich gleichbedeutend mit: „Ich bin nichts wert“.
Die reden über mich
Was ist daran so verstörend, wenn man sich in Gegenwart anderssprachiger Menschen in der eigenen Muttersprache unterhält? Müsste mich, wäre ich dieser Ansicht, nicht jeder Aufenthalt im Ausland, zutiefst verunsichern? Welche Angst steckt da dahinter?
“Wenn die Serbisch miteinander reden, dann verstehe ich sie nicht. Und ich bin mir sicher, die reden über mich,” bekomme ich immer wieder von unterschiedlichen Kolleg*innen erklärt. “Also, ich möchte schon wissen, worüber die Kinder reden,” sagt eine andere. Die Liste für ein Deutschsprechgebot ist lang. Aber immer dominiert die Angst, dass Schüler*innen nur die Muttersprache verwenden, um andere zu diskreditieren, insbesondere Lehrer*innen. Ah ja! Es wird den Kindern und Jugendlichen nicht zugestanden, dass sie sich vielleicht über das Wetter, ein Spiel oder eine Fernsehserie unterhalten. Wieder wird die Muttersprache in ein schlechtes Licht gerückt.
Es gibt ein weiteres Argument jener Kolleg*innen gegen den selbstverständlichen Gebrauch der Muttersprache. Nicht alle in der Klasse würden die Sprache verstehen. Stimmt, nicht alle können Türkisch, Serbisch oder Spanisch. Es würden sich innerhalb einer Klasse Gruppen bilden. Ja, innerhalb einer Klasse bilden sich Gruppen. Wie diese genau entstehen, ist oft schwer zu durchschauen, manchmal ist die Sprache die Basis. Zumeist ist es aber viel mehr, wie zum Beispiel Sympathie oder Interessen. Vieles regeln sich die Kinder und Jugendlichen untereinander. Sie machen sich bemerkbar, wenn sie verstehen wollen, was gerade gesprochen wird. Dazu brauchen wir keine Verbote oder Gebote. Ich verstehe meine Schüler*innen auch, dass sie sich in ihrer Herzenssprache austauschen wollen. Falls ich ehrliches Interesse an einem Gespräch habe, kann ich nachfragen, worum es geht.
Ungenützte Ressourcen
An den Wiener Mittelschulen dominieren mittlerweile viele Sprachen. Wenige Schüler*innen haben Deutsch als Muttersprache. Aber anstatt aus dieser Situation den größtmöglichen Gewinn zu erzielen, werden alle anderen Sprachen verdammt. Nur die deutsche Sprache hat als Unterrichtssprache ihre Berechtigung. Andere Sprachen dürfen nur verwendet werden, um zu dolmetschen. Manche Lehrer*innen erlauben, dass bei Gruppenarbeiten leise in der Muttersprache gearbeitet werden darf. Nur leise, laut wäre ja schon wieder unhöflich. Muttersprache bitte nur privat verwenden, oder wie? Oder am besten gar nicht mehr? Der Vorschlag, die Eltern mögen zu Hause nicht mehr in der Muttersprache sprechen, zielt doch in diese Richtung.
Warum gibt es immer noch viel zu wenig Lehrer*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist? Wenn dem so wäre, dann könnten zum Beispiel Referate auch in anderen Sprachen gehalten werden. Man würde sicher einen Modus finden, dass alle verstehen, worum es geht. Warum ermutigen wir Kinder und Jugendliche nicht zum Gebrauch der Muttersprache? Schon seit Jahrzehnten wissen wir, dass der Erwerb von Erstsprache eng an die Aneignung der Zweitsprache geknüpft ist.
Meine Erfahrungen aus der Deutschförderklasse
In der Deutschförderklasse habe ich das Glück, dass ich von einer Kollegin unterstützt werde, deren Muttersprache Türkisch ist. Zu Beginn hat sie sich immer entschuldigt, wenn sie mit den Schüler*innen nicht Deutsch gesprochen hat. Sie hat mir sogar vorgeschlagen, dass sie in einen anderen Raum gehen könnte. Mal abgesehen davon, dass ich aufgrund dieses Angebots erkannt habe, wie wenig wertgeschätzt sie sich fühlt, war ich schockiert. Nein, niemand muss mit “seiner Sprache” in ein stilles Kämmerlein verschwinden. Ich mag diese Sprachenvielfalt, dieses Durcheinander. Denn, wenn Yagmur*, meine Kollegin, bei uns ist, erwachen die türkischsprachigen Kinder zum Leben und gewinnen an Selbstbewusstsein. Dieser Umstand führt zum Beispiel dazu, dass sie sich immer mehr trauen deutsche Texte zu lesen.
Klar ist die Frage berechtigt, wie es denn den anderen Schüler*innen damit geht. Schließlich sind diese auf mich angewiesen. Ein Schüler spricht Urdu, eine Minderheitensprache in Pakistan. Der Anfang war für uns alle hart. Das schlimmste war, dass er sich niemandem mitteilen konnte. Es gibt an unserer Schule keine Schüler*innen, die Urdu sprechen. Als Rahed* im Park hinfällt und sich minimal an der Hand verletzt, bricht er fast zusammen und weint bitterlich. Es war ganz sicher nicht die Verletzung, sondern die Hilflosigkeit, niemandem sagen zu können, dass es ihm richtig schlecht geht. Der anschließende Besuch bei der Schulärztin hat das nicht besser gemacht.
Schulärztin: In welche Klasse gehst du?
Rahed blickt die Lehrerin hilfesuchend an und weint.
Lehrerin: In die 4B.
Schulärztin: Und da kannst du noch immer nicht Deutsch?
Meine Kollegin hat die Dame dann darüber aufgeklärt, dass Rahed erst seit einem Monat in Wien ist. Den Kopf geschüttelt hat sie trotzdem. Und Rahed, der im Übrigen nur mit seinem Vater in Wien lebt, hat sich ganz klein gemacht und weiter geweint.
Wie hilfreich wäre jetzt eine Person gewesen, die ihn in seiner Sprache getröstet und ihm Mut gemacht hätte.
Ja, wie geht es den anderen Schüler*innen? Auch sie profitieren von dieser Situation. Denn wenn Yagmur bei mir ist, kann ich mich diesen noch intensiver widmen.
Sprachbuddies statt Sprachsheriffs
Niemand braucht Schüler*innen, die andere daran erinnern, Deutsch zu sprechen. Was wir viel mehr brauchen könnten, wären Sprachbuddies. Ein*e vertraute*r Schüler*in, die Sprachanfänger*innen im schulischen Alltag begleitet. Jemanden, an den man sich wenden kann. Ein Stück vertraute Sprache und Heimat. Niemanden, der von einer oder einem Lehrer*in geschickt wird, sondern aus eigenen Stücken unterstützen will. Ein System, in dem die betreffenden Schüler*innen entscheiden, wann sie einander brauchen. Ein Kind oder ein Jugendlicher, das oder der einmal am Tag die Isolation der Deutschförderklassen durchbricht und ein fröhliches „Guten Morgen“ in der jeweiligen Landessprache in die Klasse ruft. Sich vielleicht eine Weile unterhält und vermittelt, wie schön das ist, dass eine, bald zwei gemeinsame Sprachen sie einen. Wäre das nicht einfach wunderbar?
*Namen von der Redaktion geändert.
Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.