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1972

1972 war das Jahr meines Eintritts in die Institution Schule. Höchstens vier Stunden verbrachte ich dort, am Samstag nur drei. Ab Mittag war meine Mutter für meine Geschwister und mich zuständig. Manche meiner Klassenkolleg*innen mussten ins Halbinternat, andere waren Schlüsselkinder. Sie hatten tatsächlich ein Band um den Hals mit dem Schlüssel. Halbinternat fand ich gar nicht so schlimm, denn diese Kinder bekamen in der 10 Uhr Pause eine knackig frische Wurstsemmel. Mein Jausenbrot, ohne Wurst und manchmal ein bisschen zäh, stimmte mich Tag für Tag ein bisschen traurig. Schlüsselkinder aber hatten mein größtes Mitleid. Nur weil die „Rabenmütter“ arbeiten gingen, waren sie sich selbst überlassen. Dunkel kann ich mich erinnern, dass auch meine Lehrer*innen die Schlüsselkinder mit großer Sorge betrachteten.

Acht Jahre später, also 1980, feierte in Frankreich die Ganztagsschule ihr hundertjähriges Jubiläum.

2020

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit meinem Schuleintritt vergangen. Zum Glück findet Samstag kein Unterricht mehr statt. Schüler*innen, deren Mütter arbeiten gehen, werden nicht mehr mitleidig betrachtet. Schlüsselkinder sind die meisten, weil es normal ist, dass das Kind einen eigenen Wohnungsschlüssel hat. Ob sie in meiner ehemaligen Volksschule zur Jause noch diese wunderbaren Extrawurstsemmeln servieren, könnte ich herausfinden.

Was wir aber noch immer nicht flächendeckend haben, ist die Ganztagsschule. Somit herrscht allem Anschein nach in vielen Köpfen der Gedanke vor, dass Frauen immer noch für die Zeit von 13 Uhr bis zum Schlafengehen für die Kinder verantwortlich sind. Also fürs Lernen, fürs Mittagessen und die Freizeit. Schon klar, es gibt auch Väter, aber selten arbeiten diese in Teilzeit. Die Mütter hingegen schon.

Die Angst vor der Ganztagsschule

„Ich will mein Kind nicht abschieben müssen.“

„Ich will nicht, dass mein Kind indoktriniert wird, für ein System missbraucht wird.“

„Ich will die Freizeit meiner Kinder gestalten. Ich will auch was von meinen Kindern haben.“

„Nur weil ein paar Feministinnen glauben, dass Frau den ganzen Tag arbeiten muss, muss dann mein Kind den ganzen Tag in der Schule versauern.“

„Und wann soll dann bitte mein Kind trainieren gehen?“

Die oben angeführten Argumente sind nur ein kleiner Auszug dessen, was ich immer wieder höre und lese. Aber ist es tatsächlich so?

1. Ich will mein Kind nicht abschieben müssen.

Entspricht dieses Argument nicht einer Schräglage die Institution Schule betreffend? Wieso ist die ganztägige Unterbringung gleichbedeutend mit dem Begriff abschieben? Ist denn Schule tatsächlich so schrecklich, dass man Kindern und Jugendlichen nur eine Minimaldosis davon zumuten will? Ist Schule noch immer kein Ort, den Kinder oder Jugendliche gerne besuchen? Ist Schule eine Institution, der man per se nicht vertraut?

2. Ich will nicht, dass mein Kind indoktriniert wird, für ein System missbraucht wird.

Gut, das Vertrauen in die Institution Schule ist nur begrenzt vorhanden. Aber allem Anschein nach traut man Lehrer*innen zu, dass sie Schüler*innen indoktrinieren. Es dominiert die Ansicht, dass wir die Macht haben, die Denkweise unserer Schüler*innen nachhaltig zu beeinflussen.  Die Ganztagsschule  hat demnach die Macht, Kinder und Jugendliche zu „Robotern ohne Hirn“ zu erziehen.

Ist es nicht in Wahrheit so, dass Eltern mit ihrem Lebensstil und ihren Anschauungen ihren Nachwuchs nachhaltig beeinflussen?

3. Ich will die Freizeit meiner Kinder gestalten. Ich will auch was von meinen Kindern haben.

Das ist ein Argument, bei dem auch ich nach Worten suchen muss. Aber ich kann von meinen persönlichen Erfahrungen erzählen. Ich war Alleinerzieherin. Die Option, ich bleib mal die ersten 10 Jahre bei meinem Kind, war keine. Zum einen, weil ich arbeiten wollte und zum anderen, weil ich Geld brauchte. Sehr deutlich ist mir der Spagat zwischen meiner Tätigkeit als Lehrerin und der Gestaltung der Freizeit meines Sohnes in Erinnerung. Schnell das Kind zum Fußballplatz bringen, nach einem langen Schultag. Schnell noch zu Freund*innen, schnell noch ein bisschen Lesen üben. Schnell noch für Tests lernen. Dazwischen sollte ich mich für den nächsten Schultag vorbereiten. Die Tage, die mein Kind länger in der Schule verbrachte, weil er Gitarrenunterricht oder Tanzunterricht hatte, waren mir die liebsten. Ich empfand es nicht als tragisch, dass mir an dieser Stelle die Schule etwas abnahm. Zeit miteinander hatten wir immer noch genug.

4. Nur weil ein paar Feministinnen glauben, dass Frau den ganzen Tag arbeiten muss, muss dann mein Kind den ganzen Tag in der Schule versauern.

Diese Aussage zeigt meines Erachtens sehr deutlich, dass das Frauenbild im Jahr 2020 ein sehr antiquiertes ist. Heimchen am Herd und Mann, der abends sein Essen bekommt und die frisch geduschten Kinder freudig begrüßt, sind immer noch der Traum des Familienlebens, oder wie?

Mal abgesehen, dass ich Feminismus nicht als Landplage empfinde, ist die Schule kein Ort, an dem Kinder und Jugendliche versauern. Wenn die Institution Ganztagsschule lustvolle Lern- und Freizeitangebote liefert, dann macht Schule höchstwahrscheinlich meistens Spaß.

Wenn aber Eltern ihren Kindern triggern, dass Schule ein Ort der Verdammnis ist, dann wird sich die Freude über den ganztägigen Schulbesuch in Grenzen halten.

5. Und wann soll dann bitte mein Kind trainieren gehen?

Gegenfrage: Warum kooperieren Vereine aller Art nicht schon längst mit den Schulen?

Auf diese Weise hätten nämlich deutlich mehr Kinder und Jugendliche die Chance kostengünstige Freizeitangebote zu nützen. Die Teilnahme daran wäre nicht mehr ausschließlich von den Eltern und deren Zeitressourcen abhängig. Ähnlich sehe ich es bei Musikschulen. Was spricht denn dagegen, dass nachmittags die Musikschule in der Schule ihren Unterricht abhält?

Ganztagsschule flächendeckend und verpflichtend

Schon klar, bevor diese Forderung tatsächlich endlich umgesetzt wird, muss sich noch einiges bewegen. Schulen müssen genug Platz für lustbetontes Lernen und Verweilen bieten. Freizeitangebote müssen dringend überarbeitet werden. Lehrer*innen brauchen dringend vermehrt zusätzliche Ausbildungen im Bereich der Freizeitpädagogik, beziehungsweise der Beruf der Freizeitpädagog*innen muss aufgewertet werden.

Es ist an der Zeit umzudenken und nach 140 Jahren dem Beispiel Frankreichs zu folgen. Ganztagsschulen müssen selbstverständlich sein.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Als ich begonnen habe zu unterrichten, hat mich die Geschichte von Naela besonders berührt. Es hat ein wenig gedauert sie besser kennenzulernen, denn sie ist ein introvertiertes und schüchternes Mädchen. Naela kam immer zu meiner Nachmittagsaufsicht, obwohl sie nicht mal dafür angemeldet war, und bat mich, ob sie länger bleiben dürfe, denn ihre Eltern arbeiten beide in einem Restaurant und kommen erst um 22:00 Uhr nach Hause. Sie wollte einfach nicht länger zuhause alleine und einsam sein.

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