Die Entscheidung Polascheks, die mündliche Matura wieder verpflichtend einzusetzen, wurde von AHS und BHS Schüler*innen zurecht lautstark kritisiert. Prominente Gegenstimmen ließen nicht lange auf sich warten. Kulturpessimistisch angehaucht jammerte Liessmann, dass der jungen Generation Biss und „Disziplin“ fehle, sie jede „Anstrengung“ vermeide und sie lieber feiere, statt Schwierigkeiten überwinden zu wollen. Die Staatsekretärin Palkolm verklärte in einem ZIB Interview die Matura zu einer „großen Chance“ und einem „besonderen Tag“ für junge Menschen, um aller Welt zu zeigen, was sie alles gelernt hätten. Zudem sei es ein wichtiger „Schritt zurück in die Normalität“.
Während Liessmann über die Leere eines einst „strengen und sinnvollen Rituals“ weint, das seine Versprechungen wie z.B. der Hochschulzugänge nur noch bedingt erfülle und überhaupt an Niveau sehr zu wünschen übrig ließe – von welchem Norm-Wissen redet er hier? -, wünscht sich Palkolm in eine Vergangenheit zurück, die für die Schüler*innen mit Angst und Stress verbunden ist und herkunftsabhängige Chancen zementiert statt beseitigt. Ihre proklamierte Chance ist ein Euphemismus sondergleichen.
Die wieder aufgeflammte Diskussion über die Notwendigkeit der Matura ist ein guter Zeitpunkt, ihre Sinnhaftigkeit einmal mehr in Frage zu stellen und ihr Ende einzufordern!
Die Matura beruht in meinen Augen auf zwei Rechtfertigungsgründe: Einmal dient sie der Zulassung für die Hochschulen. Zum anderen stellt sie das Abschlussritual der 12-jährigen Schullaufbahn dar.
Ersterer ist in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund getreten, sind doch Aufnahmeprüfungen und Eignungstests bei Studiengängen immer häufiger Usus – ein schlechter noch dazu, wie ich finde; ausreichende Finanzierung wäre hier wünschenswerter.
Der zweite ist ebenso fragwürdig. Mir erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser Abschlussprüfung nicht. Weder als Prüfung noch als Ritual. Prüfungen im Sinne eines Wiederkäuens zuvor auswendig Gelerntem ist nicht mein Verständnis von Wissensaneignung. Allein als Abschluss-Ritual wäre eine ganzjährige Projektarbeit, auch in Verbindung mit der VWA eine deutlich sinnvolle Angelegenheit. Ansonsten ist sie eine weitere Hürde und Disziplinierung. Ohnehin zeigen Schüler*innen tagtäglich, was sie können. Und das zwölf Jahre lang! Schüler*innen also mangelnde Disziplin oder Anstrengungsverweigerung vorzuwerfen grenzt an Arroganz.
Einzig die Versteifung unseres Bildungssystems auf Prüfungen und Überprüfungen der Prüfungen erklärt mir diesen (Über-)Prüfungsfetisch. Generell sollte meines Erachtens das Ziel jeden Unterrichts sein, möglichst viele Übungssituationen zu schaffen. Das würde folglich die Konditionierung, für Noten zu lernen, aushebeln und Motivation und Interesse an Neuem wieder in den Vordergrund rücken. Ferner würden die ungleichen familiären Unterstützungsmöglichkeiten der Schüler*innen ausgeglichen werden, die nach wie vor die allergrößte, wenn auch unsichtbare Mitverantwortung am schulischen Erfolg tragen. So maturieren nur 4 von 10 Arbeiter*innenkinder und 2 von 10 beginnen ein Studium, wohingegen 8 von 10 Akademiker*innenkinder eine Matura machen und ganze 7 von 10 studieren gehen. Nur zur Wiederholung: Ziffernoten sagen per se mehr darüber aus, wie Schüler*innen mit Spielregeln und Verhaltensnormen von Schule zurechtkommen als über das Leistungsniveau selbst. Somit treffen negative Noten insbesondere Schüler*innen aus bildungsfernen Schichten, weil sie viel öfters Schwierigkeiten mit dem sozialen Setting Schule haben.
Ferner zwingt die Matura in der Oberstufe – und hier vor allem im letzten Jahr – auf eine Fokussierung aller Ressourcen und Energien auf diese letzte Prüfung. Im Unterricht wird nur noch in Hinblick auf die Matura gelernt. Nicht Maturafächer geraten selbst bei Interesse gezwungenermaßen ins Hintertreffen. Folglich ist das letzte Jahr ein Bulimielernen auf eine Prüfung hin, die ihr altes Versprechen nur noch zum Teil erfüllt. Ein Zurück-zur-Normalität war schon immer nur für ÖVP und Konservative wünschenswert, die vom herrschenden (Bildungs)System profitieren.
Meine Vision ist hingegen ein Abschlusszeugnis der zwölften Klasse, das den Namen Matura trägt.
Für mich ist und bleibt die Matura, um es mit Natascha Strobel auf den Punkt zu bringen, ein „Statussymbol einer reaktionär-bürgerlichen Klasse“, um eine breite gesellschaftliche Chancengerechtigkeit einzuschränken.
Jonathan Herkommer, BHS Lehrer in Wien