„Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, die Möglichkeiten zu nützen, die uns soziale Medien bieten? Uns zu bilden und zu vernetzen, dadurch die perfiden Mauern der Ausgrenzung, die für viele von uns lange Zeit unsichtbar waren, zu sehen und sie ein für alle Mal gemeinsam niederzureißen.“
Dieser letzte Satz aus Elisabeth Lechners Buch Riot, don’t diet!, erschienen im März 2021, gab den Anstoß für diesen Text.
Inspiriert durch den Gedanken einer Schönheitsrevolution, als Aufstand der (widerspenstigen) Körper gegen „Patriarchat und profitgetriebene Schönheitsindustrie“ möchte ich die Möglichkeiten zweier Jugendromane umreisen, die „perfide Mauer der Ausgrenzung“ aufgrund des Äußeren abzureißen. Bevor ich die zwei Jugendromane kurz vorstelle, will ich näher darauf eingehen, wieso es wichtig ist, sich mit Schönheit in der Schule und allgemein politisch auseinanderzusetzen.
In ihrem Buch zeichnet Elisabeth Lechner gekonnt und in verständlicher Sprache die sozial tiefverwurzelten Ausgrenzungsmechanismen in unserer Gesellschaft entlang des Diktats der (Norm)Schönheit wider.[1] So entschlüsselt Lechner Schönheit als „ein patriarchal-kapitalistisches Konstrukt weißer Vorherrschaft, das Frauen unterdrückt und die Schönheitsindustrie aufrechterhält.“ Körper und dadurch Menschen werden anhand des Faktors Schönheit/Attraktivität hierarchisiert und entlang der Achse „schön“/„hässlich“ ein- bzw. ausgeschlossen. Dicke, haarige, queere, schwarze und behinderte Körper werden als „hässlich“ oder „ekelig“ abgewertet, wodurch ihre Beschämung und Diskriminierung, ihre Disziplinierung und Unsichtbarmachung gerechtfertigt wird. Als Folge davon stoßen die markierten Körper permanent an soziale Grenzen und können sich nicht so frei durch Räume bewegen wie weiße, junge, nicht-behinderte und schlanke Körper. Body-Shaming[2] funktioniert hierbei als Disziplinierung widerspenstiger Körper. Betroffene leiden in weiterer Folge an einem verringerten Selbstvertrauen im Umgang mit anderen und ziehen sich vermehrt aus dem öffentlichen Leben zurück.
Vom exklusiven Konzept der Schönheit profitiert vor allem die Schönheitsindustrie. Sie befeuert sie geradezu. Tagtäglich konfrontiert uns ihre Werbung mit angeblichen Defiziten, die durch die beworbenen Produkte behoben werden könnten, wodurch wir ein defizitäres Körperbild und neoliberales Leistungsdenken internalisieren: Mit den richtigen Produkten und entsprechender Selbstdisziplinierung würden wir „schön“ und „erfolgreich“ werden. So wird Schönheit Leistung und schlussendlich Arbeit – Schönheitsarbeit. Schönheit wird zum Kapital, das Vorteile verschafft.[3] Weil in einer lookistischen[4] Gesellschaft wie der unseren „schöne“ Menschen unzählige Vorteile in der Arbeit, bei der Wohnungssuche, im Bildungsweg etc. genießen, ist jeder Körper dem „kommerzialisierten Zwang der Schönheitsoptimierung“ in unterschiedlichen Graden ausgesetzt.
Die Body-Positivity Bewegung stellt sich dem Diktat der Schönheit entgegen. Sie kritisiert die exklusive Vorstellung von Schönheit und ihre unrealistischen, neoliberalen Körperideale. Das Ziel war und ist die Selbstliebe des Körpers, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Behaarung, Körpertyps, Be_Hinderung etc. Ihre Mitstreiter*innen kämpf(t)en für die Aktzeptanz von Körpern in ihrer Vielfalt und für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls. Das Konzept der Body-Neutrality betont die strukturelle Verschränkung von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus bei lookistischer Diskriminierung und stellt den Wert von Schönheit als solchen in Frage. Es hebt den Schutz von Körpern in den Vordergrund und erinnert uns daran, dass wir unseren Körpern dankbar sein können, dafür dass sie uns durchs Leben tragen, und dass wir sehr viel mehr sind als diese Körper. Im Vordergrund steht der Ausruf, alle Körper, ungeachtet ihres Aussehens, in ihrem Da- und Sosein zu akzeptieren und zu feiern.
Diskriminierung aufgrund des Äußeren ist ein Riesenproblem. Gerade junge Menschen stehen unter enormem Druck. Der sich verändernde, pubertierende Körper allein ist schon eine Herausforderung. Erschwert wird die Adoleszenzphase durch ebensolche diskriminierenden und ausgrenzenden lookistischen Rahmenbedingungen.
Wie Lechner sehe ich die Wichtigkeit der Selbstliebe und Selbstfürsorge für die eigene Identität, fürs Selbstbewusstsein und den Umgang mit anderen. Ebenso stimme ich mit ihr überein, dass es bei der Arbeit an uns selbst nicht stehen bleiben darf (Body-Positivity). Es bedarf darüberhinaus der gemeinsamen Anstrengungen, um die gesellschaftlichen Strukturen des Patriarchats und des Rassismus niederzureißen (Body-Neutrality). Es bedarf des Aufstands der widerspenstigen Körper und die Verpflichtung der privilegierten Körper, ausgrenzenden Strukturen abzubauen und eigene Privilegien zur Unterstützung anderer zu nützen. Wie bringen wir diese Revolution in die Schule?
Nun, ich denke, dass Literaturunterricht ein wesentlicher Wegbereiter der Schönheitsrevolution sein könnte. Literatur schafft Bewusstsein und umgekehrt. Zuallererst können Bücher über (noch) unbekannte Welt- und Selbstbilder informieren. Dadurch schaffen sie Bewusstsein für eigene Vorurteile und Präsuppositionen, ermöglichen Perspektivwechsel und Empathie. Literatur, die dicke, haarige, schwarze, queere und behinderte Körper thematisiert, irritiert eigene Sehgewohnheiten, schafft Repräsentation und bietet Identifikationsmöglichkeiten abseits normierter, exklusiver Körperbilder. So kann der Wert Schönheit in Frage gestellt, eigene Verhaltensweisen reflektiert und Dellen, Haare, Rundungen etc. als schön und liebenswert erlernt werden. Denn wir alle müssen diese internalisierten Denk- und Sehmuster aktiv verlernen. Es gilt, sich selbst und seine Umgebung anders sehen zu lernen und das eigene Handeln zu verändern. Dies gelingt, wenn eigene blinde Flecken sowie eigene Privilegien erkannt werden (können). Wenn weiße, junge und schlanke Menschen anfangen mitzudenken, wie es anderen geht, mithelfen, die Welt inklusiver und für alle Körper lebenswert zu gestalten, können wir eine Welt gestalten, in der die Rolle des Aussehens an Wichtigkeit verliert. Literatur kann dabei helfen, unsere eigene Betroffenheit durch die gelesene Erfahrung anderer zu reflektieren, die eigene Positioniertheit in der komplexen Gesellschaft zu bestimmen und darauf aufbauend aktiv zur Verbesserung des Zusammenlebens aller beizutragen. Zu guter Letzt schafft der literarische Austausch eine Basis der Vernetzung. Und Vernetzung ist zentral. Sie ermöglicht Bandenbildung, die die Last von Betroffenen durch Support aller Art abnehmen kann. Sie bildet die Grundlage politischer Arbeit. Und Schönheit ist politisch.
Diese angerissenen Eckpunkte ermöglichen einen ermächtigenden Umgang mit dem Thema Schönheit. Literatur bietet so einen Ausgangspunkt, Schönheit neu zu denken und zu verhandeln, sich von unrealistischen Erwartungshaltungen zu emanzipieren und Menschen und ihre Körper in all ihrer Vielfalt und Mannigfaltigkeit oder in ihrem Da- und Sosein zu lieben und wertzuschätzen.
Im Folgenden möchte ich nun zwei Bücher[5] vorstellen, die sich mit lookistischen Ausgrenzungserfahrungen Jugendlicher auseinandersetzen. Beide eignen sich in meinen Augen hervorragend, Schönheit als „exklusives Konstrukt patriarchal-kapitalistischer, weißer Vorherrschaft“ herauszuarbeiten und dieses mithilfe der oben genannten Schritte zur Schönheitsrevolution umzuwerfen. Zum einen ist das der Roman Die Königinnen der Würstchen von Clémentine Beauvais (2019). Der andere Roman trägt den Titel Tanz der Tiefseequallen und wurde von Stefanie Höfler verfasst (2017).
Ersterer erzählt die Geschichte dreier Teenager Mädchen – Astrid, Hakima und Mireille – aus einer französischen Kleinstadt, die auf Facebook von einem Mitschüler zu den drei Würstchen des Jahres in Gold, Silber und Bronze gekürt wurden – der Preis zu den „hässlichsten“ Mädchen der Schule. Während Mireille seit drei Jahren dem Mobbing ihrer Mitschüler*innen ausgesetzt ist und sich Abwehr- und Umgangsstrategien zurecht gelegt hat, trifft die Welle des Hasses und der Beschämung die zwei anderen, neu hinzugezogenen zum ersten Mal. Doch die drei beschließen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Statt sich beschämen zu lassen, vernetzen sie sich und bilden eine Bande, um Widerstand zu leisten. Zusammen entschließen sie sich zu einem Fahrrad-Trip nach Paris. Neben der unfreiwilligen Preisverleihung verbindet sie nämlich ein gemeinsames Ziel: die große Party im Élysée Palast am Nationalfeiertag. Zur Finanzierung des Road-Trips entscheiden sie sich, in einem selbstgebastelten Fahrradanhänger Würstchen zu verkaufen. So beginnt eine herzzerreißende, chaotische und selbstermächtigende Reise, die für alle drei Unerwartetes mit sich bringt. Und es ermöglicht ihnen und dadurch den Leser*innen, sich mit unseren unrealistischen gesellschaftlichen Schönheitsidealen und ihren ausschließenden Funktionen auseinanderzusetzen. Kritisch erwähnt werden muss auf jeden Fall das Cover der deutschen Ausgaben; zeigt dieses doch wahrlich keine Körper außerhalb der Schönheitsnorm. Das böte sich hervorragend als weiterer Diskussionspunkt in der Klasse an.
Der andere Roman berichtet von den Jugendlichen Niko und Sera. Abwechselnd erzählt der Roman aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren, wodurch die Leser*innen einen tiefen Einblick in das Innenleben der beiden erhalten. Sera und Niko gehen in dieselbe Klasse. Doch während Niko aufgrund seines fülligen Erscheinungsbildes von den Klassenkameraden gemobbt wird und von der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, gilt Sera als Klassenschönheit, die das diskriminierende Verhalten gegenüber Niko zwar nicht gutheißt, doch aus Angst vor Ausgrenzung selbst nicht einschreitet. Auf einer Klassenfahrt eilt ihr Niko gegen den übergriffigen Mädchenschwarm Marko zur Seite. In weiterer Folge lernen sie sich näher kennen und entwickeln beidseitig zarte Gefühle der Zuneigung, die von sozialen Strukturen der Fettfeindlichkeit auf die Probe gestellt werden. Vor allem Sera sieht sich mit eigenen Vorurteilen konfrontiert. Im fortschreitenden Verlauf verfolgen wir Seras Auseinandersetzung, sich Niko als ihren Freund und begehrenswerte Person vorzustellen. Schreibdidaktisch eröffnet der Roman viele Wege. Zum Beispiel ließe sich das offene Ende fortsetzen. Dabei könnte auch ein Augenmerk auf die unterschiedliche Sprachverwendung der Figuren gelegt werden.
Abschließend möchte ich beide Jugendromane allen Lehrer*innen ans Herz legen, die gegen Body-Shaming und für eine Schönheitsrevolution kämpfen möchten. Doch egal ob privat oder für die Schule, sie bestechen durch Charme, literarischer Qualität und die angesprochenen Themen. Denn es braucht tagtägliche Anti-Diskriminierungsarbeit, weil unsere Gesellschaft nach wie vor durch Ausschlüsse vor allem mehrfachmarginalisierter Körper in Politik und Öffentlichkeit, der Medien- und Filmlandschaft wie auch Literatur gekennzeichnet ist. Es ist an der Zeit politisch aktiv zu werden und Schönheit neu zu denken. In diesem Sinne: Riot, don’t diet!
Jonathan Herkommer ist Lehrer an einer BHS in Wien
[1] Folgende Inhalte und Gedanken beruhen auf Elisabeth Lechners Buch (2021), auf der Alexandria Podcastfolge: Schönheitsideale – Mit Elisabeth Lechner (14.7.20) sowie auf der Reihe Kontrovers der Münchner Stadtbibliothek: Zwischen BodyShaming und Body Postivity. Körperbilder in der Jugendliteratur (10.5.21)
[2] Body-Shaming bezeichnet die lookistische Diskriminierung, Beleidigung und Demütigung aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes. Als „hässlich“ oder „ekelig“ geltende Menschen werden abgewertet (Lechner, 2021, 23f.).
[3] vgl. zusätzlich Elisabeth Lechner/Christian Berger Bericht zu Schönheitsarbeit (9.5.21)
[4] Lookismus beschreibt die Stereotypisierung und Bewertung von Menschen aufgrund ihres Äußeren – „schöne“ Menschen werden aufgewertet, „hässliche“ abgewertet. Der Begriff wird verwendet, um die Normierung von Körpern und damit einhergehende Diskriminierungen und Ausschlüsse zu beschreiben (Lechner, 2021, 23).
[5] Ich danke Elisabeth Lechner für die Buchempfehlungen.