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Erschienen unter: www.schule-der-zukunft.at (Innsbrucker Schulgschichtn) 

Sechs Kinder, sechs unterschiedliche Weggabelungen

Melinda wächst mehrsprachig auf. Thomas ist das Kind zweier Akademiker:innen. Dann gibt es noch Matteo, Susanne, Emine und Ahmed. Die ersten fünf werden ab September 2022 in ein Innsbrucker Gymnasium gehen, Ahmed in eine Mittelschule. 

Susannes Eltern hätten gerne ihr Kind in jenem Gymnasium gesehen, dessen Konzept sie sich für ihre Tochter gewünscht hätten. Leider wird ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Ihre Tochter hat im Fach Deutsch „nur“ ein Gut im Volksschulzeugnis. Da dieses Gymnasium mehr Anmeldungen als Plätze hat, genügt dieses tolle Zeugnis leider nicht zur Aufnahme. Der Wunsch von Thomas Eltern dagegen wird in Erfüllung gehen, auch wenn ihr Sohn ebenso ein „Gut“ im Zeugnis hat. Sie haben ihren Sohn in ein anderes Gymnasium angemeldet, welches einen medialen Schwerpunkt hat, was seinen Eltern als äußerst zukunftsträchtig erscheint. Matteos Eltern wollen ebenso, dass ihr Sohn in das Wunschgymnasium von Susannes Eltern kommt, was so sein wird. Er hat alles „Sehr gut“, obwohl seine Leistungen in Deutsch keineswegs so toll sind, wie dessen Note vermuten lässt. Susanne hatte jedoch eine Lehrerin, die es mit der Notenwahrheit recht genau genommen hat, während Matteos Lehrerin nachsichtiger war und nicht so viel von ihren Schülerinnen und Schülern verlangt hat. Ahmed wurde als nicht gymnasialreif eingestuft, er hatte dieselbe Lehrerin wie Susanne, Emine dagegen kommt in ein Gymnasium, sie hatte dieselbe Lehrerin wie Matteo.

Was bei all diesen Szenarien nicht vergessen werden darf, ist der Druck, dem die Kolleg:innen der Volksschulen ausgesetzt sind. Dieser macht ein unbeschwertes Arbeiten in der vierten Klasse Volksschule nahezu unmöglich. Schließlich haben die Eltern der Kinder ihre Erwartungen, die erfüllt werden müssen.

Fragen zu Beginn des Schuljahres

Fragen, die ich mir immer stelle, wenn ich eine neue erste Klasse in Deutsch erhalte: 

Warum haben die Eltern von X unsere Schule gewählt, wenn sie doch bei jeder Gelegenheit unser Konzept in Frage stellen?

Wie kann es sein, dass Y dieselbe Note in Deutsch hatte wie Z, ihr Wissenstand aber unterschiedlicher nicht sein kann?

Warum durfte L nicht an unserer Schule aufgenommen werden? Denn, meiner Meinung nach hätte er sich in Deutsch in der Volksschule ein Sehr gut verdient. Dazu kommt, dass seine Eltern das Konzept der Schule unterstützen und diese Schule ihre Wunschschule war.

Diese und noch viel mehr Fragen kann mir niemand so wirklich beantworten.

Die Realität

Aber vielleicht sind diese Fragen gar nicht so wichtig. Die Kraft des einzelnen könnte auch so groß sein, dass die Schulwahl gar keine Rolle spielt. Oder, es stehen jedem/r tatsächlich nach der Unterstufe alle Wege offen, wie mir immer wieder glaubhaft zu vermitteln versucht wird.

Die Frage ist nur, entspricht diese Behauptung der Realität? Ich sage nein.

Bildung ist in Österreich immer noch vererbt. Der Bildungsaufstieg, Eltern keine Matura, Kind schon, gelingt in nur wenigen Fällen. Bei Ahmed könnte es sein, dass seine Eltern sich und ihm das Abenteuer Gymnasium gar nicht zutrauen. Was wird sein, wenn er Nachhilfe braucht? Wer soll das bezahlen? Wie sollen teure Klassenfahrten oder Auslandsaufenthalten finanziert werden? Was passiert, wenn er im Gymnasium scheitern sollte? Dann bleiben die Eltern doch lieber bei der vertrauten Schulform, wissentlich, dass ihnen nie alle Wege offen gestanden sind. 

Thomas Eltern haben diese Zweifel gar nicht. Sollte er im Gymnasium Probleme haben, dann würden sie diese, wie auch immer beseitigen.

Was wir brauchen ist mehr Chancengerechtigkeit und ein faires Bildungssystem, das dieser ambitioniert nachkommt.

Zukunft_Schule_jetzt

Die Initiative „zukunft_schule_jetzt“ ist eine Plattform von an „Bildung“ Interessierten in Innsbruck. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt hat, Schwung in die Diskussion rund um dieses Thema in unserer Stadt, aber auch österreichweit zu bringen. Dadurch möchten wir sowohl die Schulsituation und Chancengerechtigkeit für alle SchülerInnen verbessern als auch das Schulwesen zukunftsorientierter gestalten.

Expert:innen aller Schulformen wollen ein Gegengewicht zu jenen Bestrebungen darstellen, die unser Schulsystem noch elitärer und exklusiver gestalten wollen. Gesucht wird der Dialog und der Diskurs, wie die Schule der Zukunft aussehen könnte. 

Durch den Dialog soll etwas entstehen, dass den Leistungsdruck für SchülerInnen und LehrerInnen, vor allem in den Volksschulen, minimiert., die Vielfalt unserer Gesellschaft in den Klassenräumen besser widerspiegelt, das Lernen voneinander besser ermöglicht und Brennpunktschulen erst gar nicht entstehen lässt. 

Mag. Markus Astner

(Lehrer an einem Innsbrucker Gymnasium; Begründer der Initiative zukunft_schule_jetzt)

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Die Zensuren

In einer ersten Klasse liest die Klassenlehrerin die endgültigen Noten vor. Es herrscht Totenstille.

Mathematik 3, Deutsch 2, Englisch 1, Geografie 1, Biologie 1, Bewegung und Sport 1, Bildnerische Erziehung 1, Geografie 2, Musik 1. Du hast das Schuljahr mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen.

Dragana springt auf und jubelt. „Und ich hab so Angst gehabt, dass ich einen Vierer habe.“  Ich wundere mich. Dragana ist das, was man als eine gute Schülerin bezeichnet. Okay, ab und zu vergisst sie ihre Hausübungen oder ist nicht so perfekt auf eine Überprüfung vorbereitet. Weil sie eine gute Schülerin ist, wird ihr das verziehen. Also wo genau sollte da eine Vier herkommen?

Als die Lehrerin Valentinas Noten vorliest, merke ich, dass Valentina immer mehr in sich hineinkriecht. Jede Vier macht sie ein Stückchen kleiner. Beim Sehr gut in Bildnerischer Erziehung lächelt sie kurz. Dann versinkt sie wieder in sich. Auch die Zwei in Bewegung und Sport stimmt sie nicht wirklich froh. Ein bisschen wundere ich mich, weil ich sie im Theaterunterricht als sehr bewegungsfreudige Schülerin erlebe, ständig Handstand an die Wand machend oder Räder schlagend. Tanzfreude hat sie ohnehin enorm viel in sich. Vielleicht hat sie die Zwei, weil sie ab und zu ihre Sportsachen vergisst. Als nicht so gute Schülerin kann sie nicht auf Nachsicht hoffen.

Es geht weiter.

Denis jubelt über eine Vier in Mathematik. Mehmet zuckt mit den Schultern und unterstreicht mit einer Handbewegung, dass ihm die Schule ohnehin egal ist. Nicoletta kämpft mit den Tränen und Anna hält sich die Ohren zu, weil sie keine Lust auf ihre Noten hat.

Die Frage

Die Klassenlehrerin verlässt den Raum, ich bleibe mit den Schüler*innen zurück. Kurz nachdem die Türe zufällt, entlädt sich die Spannung.

Unfair!“ „Meine Eltern bringen mich um!“ „Geil, ich bekomme ein neues Handy!“ „Nicht einmal eine einzige Eins habe ich!“ „Ich hasse die Schule!“ „Ehrlich, bei mir ist das so. Ich kann lernen, so viel ich will, aber meine Noten ändern sich nicht!“ „Voll! Bei mir auch. Für Geografie habe ich gar nichts gelernt, aber ein Zwei bekommen.“ „Kenn ich. Deshalb lerne ich gar nichts mehr.

Nach zwei lauten Minuten ist der größte Frust draußen. Ich habe mir das alles angehört, habe nicht eingegriffen. Ab und zu dürfen Kinder auch laut sein, müssen sie sogar.  Ich bin sowieso der Meinung, dass man Kinder und Jugendliche erst dann nachhaltig erreicht, wenn man sie einmal so richtig laut erlebt hat.

Eine Frage hätte ich an euch.“ Ich muss die Stille nützen. „Was habt ihr dieses Schuljahr gelernt?“ Schweigen. „Ehrlich, was habt ihr gelernt?“, hake ich nach.

Nichts“, ruft Dennis. Andere stimmen ihm zu. Ich bin fassungslos. Wo kommen dann all die Noten her, wenn diese Schüler*innen, ihrer Ansicht nach, nichts gelernt haben. Irgendwann meldet sich Dragana zu Wort. „Dezimalzahlen“, ruft sie. Zumindest etwas denke ich mir. Auch wenn das Kapitel Dezimalzahlen das allerletzte Kapitel war, das wir in diesem verrückten Schuljahr durchgenommen haben. Aber es hängt allem Anschein nach noch im Kurzzeitgedächtnis. Ein anderer Gedanke kommt mir auch. Vielleicht fällt es Dragana deshalb so schwer sich selbst einzuschätzen, weil sie keine Ahnung hat, was sie in diesem Schuljahr gelernt hat.

Ich stelle diese Frage auch in anderen Klassen. Meistens bekomme ich die gleich ernüchternde Antwort. Ein Mädchen antwortet, dass sie nun wüsste, was Corona sei. Am liebsten würde ich sie umarmen.

Wozu also Notengebung?

Am 2.7. war Heinz Faßmann in der ZiB2 zum Interview eingeladen. Lou Lorenz Dittelbacher fragte nach einer möglichen Note im Krisenmanagement der Schulen.

Weil ich ja durchaus für Ziffernnoten bin, möchte ich hier keine Ausweichantwort geben. Ich würde mir ein Gut geben.

Mit ist ohnehin schon länger klar, dass es kaum Chancen gibt, die Schule in den nächsten Jahren zu einem beurteilungsfreien Raum wachsen zu lassen. Mit der nicht vorhandenen Unterstützung von obersten Stelle gehe ich mal davon aus, dass meine mittlerweile zweijährige Enkeltochter auch ab sechs Jahren ein Sehnsuchtsziel haben wird, nämlich nur Einser im Zeugnis.

Aber was sagt das aus? Was bedeutet das Gut, dass sich Faßmann selbst für sein Krisenmanagement gegeben hat? Was sagt ein Zeugnis mit lauter Einsern aus? Was kann das Kind? Was hat es gelernt?

Kinder und Jugendliche wollen sich vergleichen. Das ist eines der Argumente, die ich nicht mehr hören kann. Ja, sogar den jüngsten Volksschulkindern ist es wichtig, dass sie Ziffernnoten haben. Dann wissen sie, woran sie sind. In erster Linie dienen die Zensuren in diesem Fall den Eltern, die ihre Kinder mit anderen vergleichen wollen. Später vergleichen sich die Schüler*innen tatsächlich, weil sie es nicht anders gelernt haben.

Ohne Noten würde ich nichts lernen, sind sich die meisten Schüler*innen einig. Die meisten Lehrer*innen sehen das ähnlich.

Schule als beurteilungsfreier Raum – eine Illusion?

Einigkeit herrscht auch darüber, dass, würde man auf Noten verzichten, ohnehin alles beim Alten bliebe. Mit dementsprechenden Formulierungen wäre ja dennoch klar, dass der/die Schüler*in  versagte, ein Ziel nicht erreicht hat. Ich teile diese Meinung sogar. 

Bei der Forderungen nach Abschaffung der Noten gehe ich einen Schritt weiter. Ich will die Schule und damit auch Lernen zu einem beurteilungsfreien Raum machen.  Es muss doch irgendwann Schluss sein mit der Anhäufung von Bulimiewissen. Warum kann man nicht mal Kinder und Jugendliche fragen, was sie lernen wollen. Bei allem was sie wissen und erlernen wollen braucht man ein Basiswissen. Auch diese Erfahrung  werden die Schüler*innen ganz schnell machen. Lernen um des Lernens Willen, das wäre mein ersehntes Ziel.

Klar, würde es zu einer Umstellung im Bereich Schule und Notengebung kommen, müssen wir damit rechnen, dass zu Beginn der Lerneifer der Schüler*innen schwinden würde. Nur bin ich mir sicher, dass dieser nach einer Übergangsphase wieder zum Leben erwacht. Und vielleicht wissen dann zumindest ein paar Schüler*innen, was sie in diesem Schuljahr gelernt haben.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.