Was kannst du eigentlich?
Kinder an NMS können kaum sinnerfassend lesen, die mathematischen Kompetenzen sind nicht altersentsprechend ausgeprägt und die grammatikalische Struktur ihrer Sätze oft eine Katastrophe. Objektiv betrachtet, im Vergleich zu Gleichaltrigen, die eine AHS besuchen, sind die Leistungen meiner Schüler*innen tatsächlich mitunter sehr schwach. Objektiv gesehen müsste ich mich sorgen. Ich frage mich nur, wem diese “objektive” Sichtweise nützt. Nützt sie mir, besseren, effektiveren Unterricht zu gestalten? Nützt sie Aysha*, ihr Problem mit der Rechtschreibung in den Griff zu bekommen? Nützt sie Jusuf dabei das Bruchrechnen zu verstehen?
Ich behaupte: Nein.
Will ich effektiven, anregenden Unterricht gestalten, so muss ich bei jedem einzelnen Kind ansetzen.
Will ich eine motivierende Lernumgebung schaffen, so muss ich die Schritte, die Anstrengung und den Fleiß jedes einzelnen Kindes sehen. Wenn ich das tue und wenn ich in Betracht ziehe, mit welchen anderen Stärken meine Schüler*innen ausgestattet sind und vor allem welche Kompetenzen in Zukunft wichtig sein werden, dann mache ich mir nicht mehr ganz so große Sorgen.
Die schwierigste aller Fragen
“Was kannst du richtig gut?” – Eine Frage, so simpel, so klar, so einfach. Scheinbar. Die Antwort darauf ist in der Regel eine lange Stille, ein Stottern, wieder gefolgt von Stille und, wenn man sehr viel Glück hat, eine schüchterne, wie eine Frage klingende Antwort.
Im Laufe ihrer Schullaufbahn werden Kinder Expert*innen ihrer eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen. Tag für Tag wird ihnen von Lehrkräften aufgezeigt und rückgemeldet, was sie alles nicht können, was sie noch lernen müssen und in welchen Bereichen sie noch besonders viele Fehler machen. Behält man diese Tatsache im Hinterkopf, überrascht es wenig, dass die schwierigste Frage, die man Kindern stellen kann, nicht lautet, wie die 4 Fälle im Deutschen heißen, oder wie man die Oberfläche eines Quaders berechnet.
Die schwierigste Frage ist eine, die eigentlich ganz leicht klingt: „Was kannst du gut?“
4 Fehler, das kannst du besser!
Kinder arbeiten, Lehrer*innen bessern aus, Kinder überarbeiten. Bewaffnet mit Rotstift machen wir uns täglich auf die Suche nach Fehlern, kreisen sie ein, streichen Falsches durch und zu guter Letzt zählen wir sie auch noch. Die Rückmeldung ist für das Kind jetzt gut sichtbar: soundso viele Fehler, soundso vieles, was du noch nicht kannst. Bei dieser Vorgehensweise ist es wenig verwunderlich, dass es unseren Schüler*innen schwerfällt, auszudrücken, was sie gut können. Dagegen können sie sehr detailliert beschreiben, was sie alles nicht können. Ich plädiere nicht dafür, Fehler in den Arbeiten von Schüler*innen nicht anzustreichen. Natürlich nicht, denn “Der Nachvollzug des Falschen ermöglicht das Lernen des Richtigen” (Althof, 1999, S.8). Dennoch bedarf es in meinen Augen dringend eines Umdenkens in der Art und Weise der Leistungsrückmeldung. In einem 200 Wörter langen Text macht Emir 10 Rechtschreibfehler. Das bedeutet, dass er 190 Wörter vollkommen richtig geschrieben hat, was ein beachtliche Leistung für einen Schüler ist, der seit gerade einmal 4 Jahren Deutsch lernt. Warum nicht auch diese Seite sehen? Warum nicht den Kindern das Gelungene rückmelden und für sie sichtbar machen?
Die eigenen Schritte zählen
Elina hat 8 Fehler und Burak nur 2. Es scheint ganz klar, wer der beiden die bessere Leistung erbracht hat, oder? Zieht man den Bezugsrahmen der Klasse zur Beurteilung dieser beiden Individualleistungen heran, so ist das mit Sicherheit richtig. Zieht man allerdings in Betracht, dass Elina bei der letzten vergleichbaren Aufgabe noch mehr als 15 Fehler gemacht hat, während Burak dabei nur ein Fehler unterlaufen ist, scheint die Lage nicht mehr ganz so klar. Als Lehrerin möchte ich, dass meine Schüler*innen sich entwickeln, lernen und Fortschritte machen. Es soll jedem Kind auf seinem individuellen Lernweg ermöglicht werden, die jeweils größtmögliche Entwicklung zu machen. Um diese sehen zu können und den bereits beschrittenen Weg sichtbar zu machen, komme ich nicht umhin den Fokus auf die individuelle Leistung jedes Kindes in jedem Teilbereich meines Unterrichts zu legen. Nur wenn ich das tue sehe ich, dass Elina riesige Fortschritte gemacht hat und kann ihr diese auf eine Art und Weise aufzeigen, die sie stolz macht und dazu motiviert, weiter zu lernen. Nur wenn ich ihr den bereits beschrittenen Weg kontinuierlich vor Augen führe und sie dabei unterstütze zu sehen, wie groß die Schritte sind, die sie macht, kann ich sie ermutigen sich weiterhin anzustrengen und nicht den Mut zu verlieren.
Nur wenn uns hier ein motivierender und konstruktiver Umgang gelingt, stärken wir den Selbstwert und die Selbstwirksamkeit “unserer” Kinder in einer Art, die sie zukünftige Hürden als Herausforderungen betrachten lässt.
Es ist unser Job, ihnen die Zuversicht geben, dass schwierige Aufgaben bewältigbar sind und nicht etwas, was man sich von vornherein nicht zutraut.
Englisch, Mathe, Deutsch – ist das alles?
Als Antwort auf die Frage nach den eigenen Stärken höre ich oft ein zögerliches Aufzählen jener Schulfächer, in denen Kinder gute Noten haben. “Ich kann gut Mathe, da habe ich einen Einser” – ist eine Antwort, die mich nur bedingt zufriedenstellt. Wenn ich meine Schüler*innen ansehe, kann ich auf Anhieb eine lange Reihe von Stärken aufzählen, die in keinem ihrer Zeugnisse aufscheinen wird, von denen ich dennoch überzeugt bin, dass sie am Arbeitsmarkt mindestens genauso gefragt sind, wie eine gute Mathenote. Tim ist neugierig und stellt unheimlich viele durchdachte Fragen, Ava zeigt unheimlich viel Empathie und ist sofort zur Stelle, wenn jemand Hilfe braucht oder etwas noch nicht verstanden hat. Alles was Khava beginnt, stellt sie mit akribischer Genauigkeit und Sorgfalt fertig und wenn Jamal sich etwas vorgenommen hat, dann zieht er es durch, koste es was es wolle, und arbeitet dabei Feedback lückenlos ein.
Neugierde, Empathie, Teamfähigkeit, Sorgfalt, Durchhaltevermögen und Kritikfähigkeit – sind das nicht jene Stärken, die es den Kindern ermöglichen werden in Zukunft im Beruf flexibel und anpassungsfähig zu bleiben und ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten?
Sind es nicht genau diese Stärken, auf die wir uns stärker konzentrieren, sie fördern und hervorheben sollten? Sind es nicht diese Fähigkeiten, die am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft gefragt sind?
Die 4 Ks und was in Zukunft wichtig ist
Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken sind laut Partnership for 21st Century Learning jene Kompetenzen, die für Lernende des 21. Jahrhunderts wirklich von Bedeutung sind.
Sie stellen die Grundlage für selbstgesteuertes Lernen und Adaption dar. Die Förderung der 4 Ks ermöglicht es nicht nur neue Einsichten zu gewinnen, sondern auch Zusammenhänge herzustellen, betont auch Andreas Schleicher, Koordinator der PISA-Studien. In Lehrplänen findet man die 4 Ks allerdings genauso wenig wie am Stundenplan oder im Zeugnis. Dass es die Aufgabe von Schule ist, Kompetenzen in Deutsch, Mathematik und Englisch zu vermitteln sowie einen Grundstock an Allgemeinwissen aufzubauen, steht außer Frage. Doch in einem Alltag, in dem ich selbst mindestens einmal pro Tag mein Handy zücke um zu googlen, komme ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich die Zeit, in der ich von Kindern verlange Fakten über die 5. verschiedene Farnart auswendig zu lernen, nicht lieber dafür nutzen sollte, ihnen Aufgaben zu stellen, die komplexer und vielschichtiger sind, und bei denen sie in einem geschützten Rahmen Fähigkeiten trainieren können, die sie später einmal nicht ergooglen können.
“Meine” Kinder optimal vorzubereiten bedeutet für mich, ihnen das nötige Werkzeug in die Hand zu geben mit dem sie in der Lage sein werden, ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten und dabei weitestgehend unabhängig zu bleiben. Ein Teil der Schüler*innen, die jetzt in unseren Klassenzimmern sitzen, wird in 20 Jahren in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Sie werden Arbeiten ausführen, die mitunter komplexes Denken, Eigenverantwortlichkeit und Beziehungsfähigkeit erfordern, denn die vielzitierte Billa-Kassierin wird man dann nur noch aus Erzählungen von früher kennen. Darum will ich bei “meinen Kindern” durch motivierende Leistungsrückmeldung die Freude und den Antrieb zum lebenslangen Lernen fördern. Ich will in ihren Werkzeugkoffer packen, was später relevant sein wird: Neugierde, Offenheit, Flexibilität, Kommunikation, Teamgeist, Kreativität und einen kritischen Blick auf die Welt.
*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.
Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.
Quellen:
Althof, W. (1999). Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Opladen: Leske + Budrich
Andreas Schleicher: The case for 21st century learning.
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