Wenn die Worte fehlen
Unsere Schulen sind voller Sprachen. Diese Vielfalt ist aber dabei, zu verkümmern. Deshalb sollten neben Deutsch dringend auch Türkisch, BKS und Arabisch gefördert werden.
„Ozean – das ist alles, was hier blau ist.“ Ich deute mit einem Finger auf die Weltkarten neben der Tafel. „Ein sehr großes Meer.“ Am Stundenplan steht Geografie in einer ersten NMS-Klasse in Wien. Gerade hat mich der 11-jährige Adin gefragt was denn nun dieses Ozean sei. Ich muss wieder zurückspulen und bei der Wortschatzarbeit ansetzen – nicht nur für Adin, sondern für die meisten seiner Klassenkolleg*innen. Viele sprechen zuhause eine andere Sprache als Deutsch.
In der nächsten Stunde will ich die Kinder ermutigen und ihnen zeigen, wie toll es ist, dass sie andere Sprachen gut sprechen. Wir reden über die Jahreszeiten und ich frage Adin, was Frühling auf Bosnisch, seiner Erstsprache, heißt. Es folgt Stille. Eine Klassenkollegin, deren Eltern aus Bosnien stammen, flüstert ihm einen Vorschlag zu. Er ist falsch. Erst ein dritter Schüler kennt das richtige Wort: „Proljeće!“
Schlecht entwickelte Erstsprache
Das Dilemma: Grundlegender Wortschatz fehlt vielen meiner Schüler*innen nicht nur in Deutsch, sondern auch in ihrer Erstsprache. In ihrem Kopf können sie keine Schublade herausziehen, um das neu gelernte deutsche Wort hineinzulegen. Die Schublade muss erst gebaut werden. Das ist mühselig und vergrößert den Aufholbedarf, den diese Kinder ohnehin schon haben. Besonders zu spüren ist der fehlende Wortschatz im Deutschunterricht, aber auch in sprachintensiven Nebenfächern wie Geografie oder Geschichte.
Ein Grund für die schlechte Entwicklung der Erstsprache kann der abrupte Wechsel zu Deutsch beim Eintritt in die Volksschule sein. Massive Probleme in Deutsch haben auffällig oft Kinder, die ihre Muttersprache nur mündlich beherrschen. Das erklärt warum viele Schüler*innen, die z.B. erst in Teenageralter nach Österreich kommen, sich beim Deutsch lernen leichter tun als fremdsprachige Kinder, die hier bereits eingeschult wurden.
Auffällig ist auch, dass Bosnisch oder Türkisch in der österreichischen Öffentlichkeit im Gegensatz zu Englisch einen niedrigen Status haben. Auch die Einstellung einer Gesellschaft zu einer Sprache beeinflusst, wie sich diese entfalten kann und wie die Eltern der Kinder zu ihrer Zweisprachigkeit stehen.
Potenzial und Herausforderung
An den österreichischen Pflichtschulen spricht jedes vierte Kind in seinem Alltag neben Deutsch eine andere Sprache, in Wien jedes zweite. Diese Mehrsprachigkeit ist ein riesengroßes Potenzial und gleichzeitig eine enorme Herausforderung. Im öffentlichen Diskurs um die NMS geht das Thema zwischen Kulturkampf und Deutschförderklassen aber leider unter.
Dabei scheinen sich Wissenschaft und Behörden einig zu sein: Mehrsprachigkeit gehört gefördert. Hinter dem „Wie“ steht aber ein großes Fragezeichen. Wohl auch deshalb weil diese Frage immer wieder politisiert wird, vor allem dann, wenn es um Sprachen mit geringem sozialem Prestige geht. Laut einem Bericht des Standard empörte sich etwa die FPÖ 2012 über die Verwendung türkischer Wörter zum Erlernen des „ü“ in der Volksschule. In Erinnerung geblieben sind auch diverse hitzige Diskussionen um Deutsch als „Amtssprache“ in den Pausen.
Doch auch abseits solcher Zwischenrufe scheint man sich in Österreich mit der Umsetzung schwer zu tun. Laut dem Bildungsbericht des BIFIE von 2012 gibt es kaum Forschung zur Professionalisierung des Unterrichts in mehrsprachigen Klassen. In den aktuelleren Bildungsberichten ist Mehrsprachigeit gar nicht mehr unter den Haupt-Analysefeldern. Dabei sollte dieses Thema oberste Priorität haben.
Muttersprachlicher Unterricht
Die größte und schon seit Jahrzehnten bestehende Maßnahme ist der muttersprachliche Unterricht. Doch die Teilnehmerzahlen sind nicht sehr hoch und sinken noch dazu. Insgesamt nahmen im Schuljahr 2017/18 nur 14,5 Prozent der Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch an muttersprachlichem Unterricht teil. Liegt das am Angebot oder der Nachfrage? Wenn Letzteres zutrifft, wie könnten mehr Kinder und Eltern dazu motiviert werden?
Auch an unserer Schule war eine Türkisch-Lehrkraft eingesetzt. Oft nahm sie ein paar Kinder aus der Klasse und unterhielt sich draußen mit ihnen. Manchmal unterstützte sie auch direkt im Klassenzimmer, aber die Absprache mit den Kolleg*innen war oft schwierig und der Mehrwert für die Kinder dann dementsprechend gering. Hinzu kam, dass die Türkisch-Lehrerin an mehreren Schulen eingeteilt und deshalb in viele Abläufe nicht eingebunden war.
Ideen und Angebote
Dabei könnten selbst Lehrer*innen ohne Muttersprachenkenntnisse wichtige Signale setzen. Wird Wortschatz zu einem Thema erarbeitet, könnten sie die Schüler*innen dazu auffordern, verwandte Wörter in anderen Sprachen zu assoziieren. Dabei entstehen Diskussionen über Schreibweisen und Bedeutungen. Die Kinder tauschen sich über ihre Sprachen aus und schlüpfen so in eine Expertenrolle. Der Check kann anschließend über mehrsprachige Wörterbücher in der Klasse erfolgen.
Lehrer*innen können auch auf fix und fertige Materialien zurückgreifen. Diese werden aber hauptsächlich für Volksschüler*innen angeboten. Das Bundesministerium für Wissenschaft, Bildung und Forschung gibt z.B. die dreisprachige Zeitschrift Trio für die zweite bis sechste Schulstufe heraus. Die deutsche Website Amira bietet fantastische Kurzgeschichten für Grundschulkinder in vielen Sprachen, ergänzt mit interaktiven Online-Spielen.
Mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur gibt es natürlich auch zuhauf in gedruckter Form: Bei der nächsten Bestellung für die Schulbibliothek könnte z.B. der kleine Prinz auf Deutsch, Serbisch und Türkisch bestellt werden.
Auch bei Schulveranstaltungen lässt sich die sprachliche Vielfalt zeigen. So geschehen bei einem Tag der offenen Tür im vergangenen Jahr: Bei ihrem „Sprachenbuffet“ brachten Kinder den Besucher*innen an verschiedenen Stationen Phrasen aus ihrer Erstsprache bei. Schon die Vorbereitung darauf hebt den Wert ihrer Mehrsprachigkeit.
Der Ball liegt aber nicht nur bei den Lehrer*innen, sondern etwa auch bei den Bildungsverlagen. Diese kämpfen schon jetzt um die Zielgruppe an den sogenannten „Brennpunktschulen“. Um relevant zu bleiben, müssen sie die Realität dieser Standorte auch in ihren Produkten abbilden. Da reicht es nicht, die Protagonistin im Lesetext Gyulshen statt Susi zu nennen. Nicht nur ist der vorausgesetzte deutsche Wortschatz meist zu groß. Bisher ist mir kein Schulbuch bekannt, in dem Übungen zum Verbinden mit anderen Sprachen angeboten werden.
Wenn es um mangelnde Deutschkenntnisse geht, gehört der Blick auch auf die Erstsprache gerichtet. Hier sind Eltern, Lehrer*innen, Forschung und die Politik gefragt. Ansonsten werden weiter Kinder von unseren Schulen gehen, die keine Sprache richtig können und denen ihr Leben lang die Worte fehlen werden.
Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.
Weitere Quellen:
Wirbel um Deutschpflicht an Mödlinger Schule (Die Presse)
Wie viel Muttersprache braucht ein Kind? (Elfie Fleck)
Jeder zweite Wiener Schüler hat nicht Deutsch als Umgangssprache (Kurier)
Ich bin beeindruckt über diese gelungene, einfache Darstellung des komplexen Themas der Mehrsprachigkeit. Wir wollen Kindern deutsch und englisch beibringen, dabei können sie noch nicht mal ihre Muttersprache schreiben. Anstatt den Kindern das Gefühl zu geben, dass Zweisprachigkeit nur gut ist, wenn das englisch und deutsch ist, wäre es gut ihre Kompetenzen in der Muttersprache zu fördern. Finde ich toll geschrieben!